Wörterbuch zur Sicherheitspolitik. Ernst-Christoph Meier

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Wörterbuch zur Sicherheitspolitik - Ernst-Christoph Meier страница 35

Автор:
Серия:
Издательство:
Wörterbuch zur Sicherheitspolitik - Ernst-Christoph Meier

Скачать книгу

bemühen, wie sie in der neuen Indopazifik-Strategie der Bundesregierung zum Ausdruck kommt. In diesem Kontext entsendet, wie zuvor schon Großbritannien und Frankreich, 2021 auch Deutschland erstmals eine Marineeinheit (Fregatte) in die indopazifische Region zur Teilnahme an gemeinsamen Übungen und zur Demonstration seines Interesses an der Wahrung der geltenden internationalen regelbasierten Ordnung.

      Bündnispolitische Implikationen für das deutsche Verteidigungsdispositiv und die Bundeswehr

      Mit dem Wegfall der vormaligen existenziellen Bedrohung seiner territorialen Integrität hat sich Deutschland von einem massiv unterstützten Verbündeten in prekärer Frontlage zu einem wichtigen Unterstützer für andere und von einem security consumer zu einem security provider gewandelt. Dies gilt sowohl für Stabilisierungsmissionen als auch für die seit 2014 wieder in den Vordergrund getretene NATO Kollektive Bündnisverteidigung. Doch in dieser Unterstützungfunktion bestehen gravierende Unterschiede: Bei Stabilisierungsmissionen ist Deutschland eine Nation von vielen, und es kommt auf die deutschen militärischen Beiträge nicht zwingend an; hier hat Deutschland stets die Wahl, Art, Umfang, Zeitpunkt, Dauer und Intensität seines militärischen Einsatzes nach eigener Interessenlage zu bestimmen (»conflicts of choice«). Im Unterschied zu den westlichen Nationen mit ständigem Sitz und Vetorecht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (USA, Frankreich, Großbritannien) hat es auch keine besonders herausgehobene Verantwortung für internationales Krisenmanagement. Es hat sich daher eine »Kultur der militärischen Zurückhaltung« leisten können. Bei Abschreckung und kollektiver Bündnisverteidigung zum Schutz Europas liegen die Dinge völlig anders: Hier ist Deutschland gefordert, sich so schnell wie möglich mit allem einzubringen, was es militärisch verfügbar machen kann, um der Eskalation einer Krise zu einem Krieg durch glaubwürdige Abschreckung und wirksame Verteidigungsfähigkeit vorzubeugen. Würde Abschreckung nicht greifen, käme es zu einem »war of necessity«, nicht zu einem »conflict of choice« wie bei Stabilisierungsmissionen. Gemäß Art. 3 des Nordatlantikvertrags ist Deutschland verpflichtet, ein dafür geeignetes Verteidigungsdispositiv vorzuhalten. Folgende Aspekte sind dabei maßgebend:

      a. Zentrales Transitland und logistische Drehscheibe Europas

      Im Falle eines regionalen militärischen Konflikts mit Russland – der einzigen Großmacht, die europäische Verbündete militärisch ernsthaft bedrohen könnte – läge Deutschland zwar »weit hinten«. Es wäre als zentrales Transitland im rückwärtigen Raum vor allem für den zeitgerechten Aufmarsch und umfangreiche Kräfteverlegungen in einer sich entwickelnden Krise von herausragender Bedeutung. Deutschland würde mit dieser Lage nicht mehr in Gänze zum Kriegsschauplatz wie im Kalten Krieg werden; allerdings wären Teile seiner kritischen Infrastrukturen (Häfen, Verkehrsinfrastruktur, Führungseinrichtungen etc.) gegnerischen Angriffen ausgesetzt, von hybriden und Cyber-Angriffen bis hin zu kinetischen militärischen Schlägen mit Fernwaffen (Luftangriffe, Flugkörper, Marschflugkörper, weitreichende Artillerie).

      b. Verstärkte Vornepräsenz und Verstärkungen für Nordosteuropa

      Zugleich wären die im angegriffenen Frontstaat »vorne« eingesetzten deutschen Streitkräfte zu Lande, in der Luft und zur See schon unmittelbar bei Ausbruch von – möglicherweise hochintensiv geführten – Kampfhandlungen auf dem Kriegsschauplatz involviert. Dies trifft auf den in der Vornepräsenz in Litauen stationierten deutschen Kampfverband ebenso zu wie auf weitere, als erste Verstärkungskräfte (VJTF-Speerspitze, NATO Response Force) zugeführte deutsche Verbände, welche gemeinsam mit den nationalen Landesverteidigungsverbänden (national home defence forces) der angegriffenen Verbündeten für die Anfangsoperationen (Verzögerungsgefecht, Verteidigung) dringend benötigt würden. Im weiteren Verlauf des Konflikts käme es darauf an, dass Deutschland mit allen verfügbaren militärischen Kräften und Fähigkeiten, im Rahmen seiner  Beistandspflicht in der NATO nach  Art. 5 Washingtoner Vertrag sowie in der EU nach  Art. 47 Abs. 3 des Lissabonner Vertrags seine Verpflichtungen erfüllt und seine gesamten Streitkräfte der NATO für Verteidigungs- und Gegenangriffsoperationen zur Wiederherstellung der territorialen Integrität angegriffener Verbündeter zur Verfügung stellt. In der NATO als konsensbasierter Organisation wäre dabei von größter Bedeutung, dass jeder Mitgliedstaat, einschließlich Deutschlands, sowohl auf politischer Ebene in den Gremien des NATO Hauptquartiers eine zügige Beschlussfassung zur Verlegung und zum Einsatz der NATO Streitkräfte mitträgt und den Entscheidungsprozess nicht etwa verzögert, als auch auf militärischer Ebene unverzüglich die zugesagten Streitkräfte und militärischen Fähigkeiten der NATO für die Führung der Operationen zur Verfügung stellt (Transfer of Authority) und darüber hinaus alle eigenen weiteren Bündnisverpflichtungen (Host Nation Support, Führung rückwärtiger Operationen) erfüllt.

      Die im Falle eines regionalen Konflikts mit Russland von Deutschland benötigten Streitkräfte zur kollektiven Bündnisverteidigung sind ihrem Wesen nach daher einerseits als »Expeditionsstreitkräfte« zu bezeichnen. Sie müssen rasch über weiterhin große Entfernungen verlegt, schnell einsetzbar und kampfbereit und flexibel einsetzbar sein und können nicht wie im Kalten Krieg auf die grenznahe Vorneverteidigung im eigenen Land mit bereits im Frieden aufmarschierten Großverbänden optimiert sein. In diesem ecpeditionary character weiter Teile der deutschen Land-, Luft- und Seestreitkräfte ähneln die Anforderungen denen, die in dem deutschen Streitkräftedispositiv seit Beginn der 1990er-Jahre für ihre Einsätze im Rahmen von Krisenmanagement und Stabilisierungsoperationen »out of area« zugrund gelegt und auf welches sie hin transformiert wurden. Andererseits besteht ein ganz wesentlicher Unterschied im zugrunde liegenden Kriegsbild. Es sind nicht mehr die sog. »kleinen Kriege« oder (nach Münkler) die »neuen Kriege«, aus denen der militärische »Level of Ambition« abgeleitet und auf die das Anforderungsprofil der Streitkräfte ausgerichtet sein muss. Sondern »strukturbestimmend« sind wieder hochintensiv zu führende klassische militärische Land-, Luft- und Seekriegsoperationen in einem – zwar regional begrenzten und nicht mehr kontinentweit ausgetragenen – Krieg, der aber dennoch das gesamte Spektrum von subversiver über hybride und konventionelle Kriegführung bis hin zum Einsatz nuklearer und anderer Massenvernichtungswaffen umfassen kann. In dieser Hinsicht ähneln die neue Lage und die sich daraus ergebenden Anforderungen an das Fähigkeitsprofil der deutschen Streitkräfte und des deutschen Gesamtverteidigungsdispositivs mehr denen des endgültig überwunden geglaubten Kalten Krieges als den zivil-militärischen Stabilisierungsmissionen der letzten drei Jahrzehnte. Die konzeptionelle Problematik besteht somit für die deutsche Verteidigungsplanung darin, den seit nun zwei Jahrzehnten eingenommenen und gewohnten »expeditionary character« (leichte, gut verlegbare, flexibel einsetzbare, effiziente Einsatzkontingente, die über Jahre durch regelmäßige Rotationen im Einsatz durchgehalten werden können) mit den verlernten und nicht mehr vorhandenen Charakteristika von Streitkräften zu verbinden, die für einen hochintensiven Krieg mit klassischen Strukturen, Prozessen, Kräften und Fähigkeiten geeignet sind:

      •schwere Bewaffnung (Kampfpanzer, Schützenpanzer, Artillerie, bewegliche Heeresflugabwehr, bodengebundene Luftverteidigung etc.);

      •zum Gefecht der verbundenen Waffen befähigte Großverbände (Brigaden, Divisionen);

      •entsprechende operative Führungsebene (Korps, Armee, Heeresgruppe);

      •auf Wirksamkeit im Krieg statt auf Effizienz im Friedensbetrieb ausgelegte Logistik;

      •Wiederaufnahme großangelegter regelmäßiger NATO-Verfahrensübungen aller Führungsebenen vom Hauptquartier in Brüssel über die Bundes- und Landesregierungen bis auf die kommunale Ebene (Landkreise);

      •große Feldübungen und taktische Überprüfungen der Land- bzw. Luft- und Seestreitkräfte.

      Diese Ausrichtung auf einen hochintensiven, regionalen Konflikt mit einem nahezu gleichwertigen, hoch gerüsteten Gegner mit umfangreichen und gut eingeübten subversiven, hybriden, konventionellen und nuklearen Kräften und Fähigkeiten ist seit 2014

Скачать книгу