Frauenstimmrecht. Brigitte Studer
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Die internationale Ebene – transnationale Verflechtungen
Als Auftraggeberin der Forschungsarbeit von Brigitte Studer und Judith Wyttenbach hat die Stiftung FRI – Schweizerisches Institut für feministische Rechtswissenschaft und Gender Law das Privileg, der Studie einige Worte zum Hintergrund ihres Auftrags vorausschicken zu dürfen.
Recht und Gesetz wirken direkt und indirekt auf die Geschlechterverhältnisse und auf die Gestaltung des Lebens von Individuen aller Geschlechter. Deshalb ist ein kritischer, geschlechterbewusster Blick auf das Recht gefragt: Diesen will das FRI einnehmen und fördert deshalb die feministische Rechtswissenschaft und Gender Law. Das Institut geht auf die Initiative von feministischen Juristinnen in den 1990er-Jahren zurück und wird aktuell von einer Gruppe von Personen getragen, die was Geschlecht, Generation, Region und beruflicher Hintergrund angeht, vielfältig zusammengesetzt ist. So ist denn auch die Vernetzung von an Geschlechterfragen im Recht interessierten Forschenden und Fachleuten aus Rechtsanwendung, Politik und Gleichstellungspraxis ein wichtiges Anliegen. Das FRI ist ein Ort des Diskurses, der sowohl auf einer rechtspraktischen wie einer theoretischen Ebene geführt wird, und wo Wert auf den Dialog zwischen den beiden Ebenen gelegt wird. Das Institut behandelt die Geschlechterfrage als Querschnittsthema, das alle Rechtsbereiche betrifft. Visionen sind eine geschlechtergerechtere Welt, die Freiheit der Lebensgestaltung ohne einengende, auf die geschlechtliche und sexuelle Identität bezogene Normen und der Abbau von Herrschaft und Hierarchien.1
Mit diesen Zielen vor Augen hat das FRI die Professorinnen Brigitte Studer (Geschichtswissenschaft) und Judith Wyttenbach (Rechtswissenschaft) im Herbst 2019 mit der Ausarbeitung der vorliegenden Studie beauftragt. Beweggrund dafür war, dass das FRI das 50-Jahre-Jubiläum der Einführung des Frauenstimmrechts im Jahr 2021 zum Anlass nehmen wollte, sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft zu blicken: Mit Blick auf die Vergangenheit stellt sich die Frage der tieferen Ursachen dafür, dass die Schweizer Staatsbürgerinnen im internationalen Vergleich erst sehr spät, im Jahr 1971, Zugang zu den politischen Rechten erhalten haben. Welche gesellschaftlichen und kulturellen Gründe können aus historischer Sicht ausgemacht werden? Welche rechtswissenschaftlichen Diskurse, Akteurinnen und Akteure haben zur Aufrechterhaltung des diskriminierenden Zustands beigetragen, welche haben den Wandel hin zur Demokratisierung befördert? Welchen Spielraum hatten die Entscheidungsträger in den politischen Behörden und Gremien? Und wie ist das vergangene Unrecht aus heutiger Sicht zu bewerten? Den Autorinnen ist es mit ihrem Forschungsteam gelungen, zu all diesen Fragen höchst interessante neue Erkenntnisse zu gewinnen und gleichzeitig bestehendes Wissen zu systematisieren und so besser zugänglich zu machen.
Die bessere Kenntnis der Vergangenheit ermöglicht uns heute, in die Zukunft zu blicken: Aus juristischer Sicht ist dieses Jubiläum insbesondere eine Gelegenheit, auf die Frage nach der Auslegung von Normen zurückzukommen und damit auch auf die Macht der verschiedenen politischen und rechtlichen Instanzen, Fortschritte im Bereich der Gleichstellung zuzulassen – oder auch nicht. Zur Erinnerung: Wenn es notwendig war, zu warten, bis die Schweizer Männer zustimmten, den Schweizer Frauen das Stimm- und Wahlrecht zu gewähren, dann deshalb, weil das Parlament es nicht wagte, eine Änderung des Gesetzes über die politischen Rechte vorzuschlagen, die auf einer neuen Auslegung von Artikel 74 der Bundesverfassung von 1874 beruht hätte, wie Judith Wyttenbach darlegt. Diese Beobachtung beschränkt sich allerdings nicht auf die Frage der demokratischen Teilhabe: Generell bedeutet die tatsächliche Verwirklichung der Gleichstellung von Frauen und Männern und im weiteren Sinne aller Menschen notwendigerweise, sich von der historischen Bedeutung der durch das patriarchalische System geprägten Normen zu lösen, um innovative Interpretationen vorzuschlagen. Zwar tun sich unsere Institutionen immer noch regelmässig schwer, diesen Schritt zu gehen – man denke etwa an das Urteil des Bundesgerichts von 2014, in dem es eine Universität dazu verpflichtete, eine Studentenverbindung anzuerkennen, obwohl diese Frauen ausschloss,2 oder an jenes von 2019, in dem es sich weigerte, Artikel 3 Absatz 1 des Gleichstellungsgesetzes auf eine homosexuelle Person anzuwenden, mit der Begründung, dass Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung nicht in den Anwendungsbereich des Gesetzes falle, weil es ihm an Geschlechtsspezifität fehle.3 Umgekehrt wagte unser höchstes Gericht den späten Schritt weg von der historischen Auslegung im Jahr 1990, indem es den in der Verfassung des Kantons Appenzell Innerrhoden verankerten Begriff der «Landleute» gleichstellungskonform auslegte.4 Das Bundesparlament tat es ihm in jüngerer Zeit gleich, indem es der Ansicht war, dass eine systematische, völkerrechtskonforme Auslegung der Artikel 14 und 119 der Bundesverfassung den Verzicht auf eine Verfassungsrevision zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare wie auch den Zugang zur Fortpflanzungsmedizin für Frauenpaare ermöglicht.5
Was lehrt uns vergangenes Unrecht für die Zukunft? Perspektiven für ein geschlechtergerechteres Recht sehen wir in einer besseren Nutzung der bestehenden Rechtsinstrumente durch Anwältinnen und Anwälte, die verstärkt auf die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen des Gleichstellungsgesetzes, aber auch auf das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) oder die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zurückgreifen könnten. Expertise im Bereich des Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsrechts sollte zu einem wesentlichen Kriterium für die Wahl von Richterinnen und Richtern ans Bundesgericht werden. Lehrangebote im Bereich der feministischen Rechtswissenschaft und Gender Law wären an den Schweizer Rechtsfakultäten zu entwickeln. Ganz grundsätzlich ginge es schliesslich darum, anknüpfend an Vordenkerinnen wie Olympe de Gouges, Iris von Roten, Tove Stang Dahl oder Margrith Bigler-Eggenberger, den rechtlichen Kompass konsequent nach der Lebensrealität von Frauen zu richten, oder zeitgemässer formuliert, Gleichheit aus der Perspektive der von Unrecht Betroffenen zu denken.6
Für das FRI – Schweizerisches Institut für feministische Rechtswissenschaft und Gender Law
Véronique Boillet
Michelle Cottier
Sandra Hotz
Nils Kapferer
Zita Küng
Seraina Wepfer
Anmerkungen
1Vgl. zu den Aktivitäten des FRI die Website www.genderlaw.ch.
2BGE 140 I 201, E. 6.7.4.
3BGE 145 II 153, E. 4.
4BGE 116 Ia 359, E. 10c.
513.468 Parlamentarische Initiative «Ehe für alle». Bericht und Entwurf der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 30. August 2019, BBl 2019, S. 8595, 8600, 8610f.
6Baer, Susanne: Gleichheit im 21. Jahrhundert, in: Kritische Justiz 53/4 (2020), S. 543, 549f.