Frauenstimmrecht. Brigitte Studer
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Im Herbst 2019 beauftragte uns das Schweizerische Institut für feministische Rechtswissenschaft und Gender Law (FRI), im Hinblick auf das Jubiläumsjahr 2021 eine Studie zur Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz zu verfassen. Die Studie sollte sich anhand konkreter Fragestellungen mit den gesellschaftlichen und rechtlichen Debatten vor der Einführung des Frauenstimmrechts auseinandersetzen: Zu welchen Zeitpunkten wurde die Einführung besonders intensiv diskutiert? Welche Akteurinnen und Akteure waren in diesem Prozess besonders wichtig? Wie verliefen die gesellschaftlichen Diskurslinien? Wie wurde das Frauenstimmrecht in der rechtswissenschaftlichen Debatte diskutiert? Inwiefern stellte der Ausschluss von den politischen Rechten aufgrund des Geschlechts vor 1971 eine staatliche Menschenrechtsverletzung dar? Welche Handlungsmöglichkeiten bestanden in Bund und Kantonen auf politischer und rechtlicher Ebene, und welche wurden genutzt? Und schliesslich: Weshalb war die Einführung zu früheren Zeitpunkten gescheitert, und warum gelang sie 1971? Der Auftrag führte zu einer interdisziplinär angelegten Studie mit einem historischen Teil, verfasst von Brigitte Studer, und einer Diskursanalyse aus rechtswissenschaftlicher und rechtshistorischer Sicht von Judith Wyttenbach und den Doktorandinnen an ihrem Lehrstuhl, Daniela Feller, Sanija Ameti und Laura Bircher. Die Studienanlage mit je eigenen Fragestellungen und Forschungsdisziplinen bringt mit sich, dass die Teile unterschiedlich aufgebaut sind und sich zum Beispiel auch die Belegung und Zitierweise unterscheiden. Aus der gemeinsamen Reflexion und Diskussion der beiden Teilstudien entstand die Synthese mit den übergreifenden Erkenntnissen, die den dritten Teil dieses Buches bildet.
Wissenschaft schreibt sich nie isoliert. Wir sind keine Ausnahme und möchten daher danken:
–dem FRI für den Auftrag, der uns dazu motivierte, mit einem interdisziplinären Blick und anhand konkreter Fragestellungen auf die spannende Geschichte des Frauenstimmrechts zu schauen;
–den Mitgliedern des Sounding Boards, die eine erste Fassung gelesen, kritisch kommentiert und uns wertvolle Hinweise gegeben haben (Caroline Arni, Michelle Cottier, Ruth Dreifuss, Irène Herrmann, Sandra Hotz, Regula Kägi-Diener, Claudia Kaufmann, Zita Küng, Andrea Maihofer, Lisa Mazzone und Yvonne Schärli);
–Regula Kägi-Diener und Werner Seitz, die sich das gesamte Manuskript zur Brust genommen, sehr detailliert kommentiert und uns auf Unstimmigkeiten hingewiesen haben;
–Lisia Bürgi, Eliane Braun und Sabrina Alvarez für ihre umfangreichen, akribischen und teilweise schwierigen Recherchen, die Erstellung von Übersichten und Tabellen und für die redaktionellen Arbeiten;
–Monika Wyss für die formale Durchsicht des rechtswissenschaftlichen Teils.
Eine Erklärung zur Begrifflichkeit: In der Schweiz wird umgangssprachlich und in den Quellen der Begriff «Frauenstimmrecht» verwendet, doch sind damit sowohl das Wahlrecht als auch das Stimmrecht gemeint. In den politischen Debatten wurde im Deutschen vielfach die Unterscheidung zwischen «aktivem» und «passivem» Stimm- und Wahlrecht gemacht (eine Unterscheidung, die teilweise auch auf Französisch übernommen wurde). Ersteres meint das Recht, sowohl abstimmen wie wählen zu dürfen, Letzteres nur die Wählbarkeit. In den historischen Debatten war auch der Begriff «integrales» Frauenstimmrecht in Gebrauch. Damit wurden diejenigen politischen Rechte bezeichnet, über die in der Regel seit 1848 auch die Schweizer Männer verfügten: Stimm- und Wahlrecht, Wählbarkeit von der Gemeinde über den Kanton bis zum Bund sowie eventuelle weitere mit der Aktivbürgerschaft verbundene Rechte. In den Debatten über das Frauenstimmrecht bezog sich jedoch das «integrale» Frauenstimmrecht manchmal auch nur auf Gemeinde und Kanton.
Neuenburg und Bern, im Februar 2021
Brigitte Studer und Judith Wyttenbach
Politische Aktion, Akteurinnen und Akteure, Argumente
von Brigitte Studer
1893 erhielten die Frauen Neuseelands das Wahlrecht. Einige amerikanische Gliedstaaten waren vorausgegangen; die ersten Staaten Europas führten es nach der Jahrhundertwende ein, 1906 zuerst Finnland, dann, nach dem Ersten Weltkrieg, gab es eine grosse Welle, nach dem Zweiten Weltkrieg eine kleinere, in der fast alle folgten. International noch kaum beachtet, hatten die zu Grossbritannien gehörenden Pitcairninseln das Frauenstimmrecht bereits 1838 eingeführt. Nur in der Schweiz dauerte es bis 1971; so spät erst wurde den Schweizerinnen der Status von politischen Rechtssubjekten gewährt.1
Der formale Ausschluss der Frauen aus der Politik ging der Legitimation dieses Ausschlusses voran. Benötigte die Französische Revolution vier Jahre, bevor sie die Frauenklubs schloss und die Jakobiner-Frauen damit aus der neu konstituierten öffentlichen Sphäre verbannten, erledigten dies die eidgenössischen Verfassungsgeber 1848 still und diskussionslos. Sie etablierten ein universelles Männerstimmrecht, das die kommenden 123 Jahre den Schweizer Stolz begründete, die «älteste Demokratie der Welt» geschaffen zu haben – eine Demokratie, die mit anderen inkommensurabel war. Für die Schweiz, meinen Brigitte Schnegg und Christian Simon, waren zur Zeit der Helvetischen Republik die grossen Kämpfe der Frauen bereits stellvertretend in Frankreich entschieden worden, die Männer waren gewarnt.2 Die entstehende bürgerliche Gesellschaft distanzierte sich von der in ihren Augen verweichlichten aristokratischen Gesellschaftsordnung und ihren geschlechtergemischten Geselligkeitsformen, wie sie in der Schweiz auch die urbanen patrizischen Oberschichten in Bern, Neuenburg, Genf und Lausanne pflegten. Das Geschlecht galt nun für das politische Partizipationsrecht als ausschlaggebend. Die schweizerische Aufklärung, angeführt vom Zürcher Kreis um Johann Jakob Bodmer, orientierte sich an den alten Schweizer Tugenden Wehrhaftigkeit, Sparsamkeit, Sittenstrenge, von Rousseau idealisiert und auch von den französischen Republikanern zum Vorbild gemacht. Neu kam die Vernunft hinzu, wie die Politik eine Männersache. Weiblichkeit galt als deren Gegensatz. Die Frauen hatten im Haus zu wirken, da konnten sie als Gattin und Mutter schalten und walten. Die Vertretung gegen aussen der als arbeitsteilige wirtschaftliche Einheit funktionierenden Familie fiel hingegen dem Mann zu. Er verkörperte das bürgerliche Rechtssubjekt. Wie Carole Pateman gezeigt hat, war die Geschlechterdifferenz für die Bildung der neuen politischen Öffentlichkeit im Liberalismus konstitutiv.3
Das ganze 19. Jahrhundert und beinahe das ganze 20. Jahrhundert bemühten sich Theoretiker, den Ausschluss der Frauen zu legitimieren. In einem kaum enden wollenden Redeschwall juristischer, philosophischer, literarischer und medizinischer Stellungnahmen und Schriften erklärten sie, dass diese Organisation der Gesellschaft der Geschlechternatur entspreche. Paradigmatisch formulierte es der Schweizer Staatsrechtler Johann Caspar Bluntschli: «Der Staat ist entschieden männlichen Charakters.» Im Endeffekt wurde ein soziales Konstrukt – die polarisierte bürgerliche Geschlechterordnung – naturalisiert. Dabei schrieben diese Theoretiker nicht nur gegen die seit der Aufklärung ertönenden feministischen Stimmen an, etwa einer Mary Wollstonecraft, sondern auch gegen