El Niño de Hollywood. Oscar Martínez
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Wahrscheinlich wäre Miguel Ángel Tobar ohnehin ein gnadenloser Mörder geworden. Vielleicht wäre er am Ende auf jeden Fall ohne Grabstein, in Anwesenheit von Männern, die nicht weinen, und Frauen, die ohnmächtig werden, auf einem staubigen Friedhof im Westen El Salvadors bestattet worden. Möglicherweise wäre all das auch dann passiert, wenn Miguel Ángel Tobar nie etwas von der MS-13 gehört hätte. Doch das war nicht der Fall.
Sie waren füreinander geschaffen. Sie ähnelten sich so sehr…
Bevor Miguel Ángel Tobar El Niño de Hollywood wurde, war er ein verwahrlostes Kind und Halbwaise. Ein Krieg hatte alles zerstört. Als das große Massaker nach zwölf Jahren endete und die sterblichen Überreste der Toten noch warm waren, wurden Hunderte von Männern aus den USA ausgewiesen. Sie kamen mit einem neuen Angebot ins Land.
Die Abgeschobenen, die ersten Gesandten der »Bestie« – wie El Niño de Hollywood die Bande nannte –, boten Miguel Ángel Tobar und Hunderttausenden wie ihm ein neues Leben an, einen neuen Krieg, ein neues Ziel: den Krieg gegen die chavalas, die uno caca, die diecihoyos (die »Mädchen«, die »Eins-a-Kacke«, die »Arschzehn«). Gegen einen Feind also, der ihnen glich wie ihr eigenes Spiegelbild und der es auf sie abgesehen hatte: die vom Barrio 18. Miguel Ángel Tobar lief mit fliegenden Fahnen zu einer Familie über, die die zerrüttete Familie ersetzte, der er von Bluts wegen angehörte. Sie lieferte ihm einen Grund, weiterzuleben. Dieser Grund war der Tod selbst. Ein Krieg.
Doch jener Krieg zwischen den spiegelgleichen Jungen hatte bereits lange vor Miguel Ángel Tobars Geburt begonnen, Tausende Kilometer von dem staubigen, verlassenen Friedhof Atiquizayas entfernt.
In den Siebzigerjahren waren Salvadorianer massenweise in den Süden Kaliforniens geströmt. Es handelte sich um keine allmähliche Einwanderung, einer nach dem anderen, Familie für Familie. Sie kamen in Scharen, und sie wanderten nicht aus, sie flüchteten: mitten in der Nacht, nur mit dem, was man auf die Schnelle zusammenpacken konnte, ohne genau zu wissen, wo man hinkommen würde. Es war weniger wichtig anzukommen, als nicht mehr hier zu sein.
Fast keiner dieser Tausenden Salvadorianer, die in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre nach Kalifornien kamen, sprach Englisch. Nur wenige hatten dort Familie. Die Mehrheit landete in Pico-Union, einem Stadtteil von Los Angeles, wo es billige Wohnungen gab. Bis zu vier Familien drängten sich in diesen Streichholzschachteln.
Viele der Migranten waren sehr junge Männer, die den Krieg bereits persönlich kennengelernt hatten. Damals erfolgten Rekrutierungen in El Salvador nicht, indem am Tag der Volljährigkeit ein Brief ins Haus flatterte, wie bei den nordamerikanischen Jungen während des Vietnamkriegs. Nein. In El Salvador wurden sie gejagt. Armeelastwagen fuhren in die Armenviertel, und ein ganzer Trupp Soldaten fing mit Stricken Kinder und Heranwachsende ein, die dann, kahl rasiert und kurz ausgebildet, zum Töten und Sterben in die Berge geschickt wurden.
In den Bergen lebte die Guerilla. Eine hervorragend trainierte Truppe, die ihrerseits Kinder und Heranwachsende rekrutierte. Viele der jungen Krieger flüchteten nach Kalifornien, nachdem sie den Tod aus der Nähe erlebt hatten. Dort entstand ein Netz von Neuankömmlingen, die einen zogen die anderen nach. Ihre schiere Masse machte Kalifornien zum Gelobten Land.
»Wir sind vor einem Krieg geflohen. Wir wollten keinen Krieg mehr. Aber dort sahen wir uns wieder einer Menge von Problemen gegenüber«, sagte ein Veteran des Barrio 18. Er war in den Achtzigerjahren nach Kalifornien gekommen, nachdem er mehr als ein Jahr in den salvadorianischen Bergen die Guerilla bekämpft hatte.
Los Angeles, die Stadt, in der die meisten Flüchtlinge landeten, war alles andere als ein friedlicher Ort, an dem man in Ruhe Wurzeln schlagen konnte. Dort wurde ein anderer Krieg ausgefochten, einer, in dem zufälligerweise auch die Jugendlichen kämpften.
Als die salvadorianischen Jungen dort in die Schule gingen, erlebten sie die Hölle. Sie sprachen kein Englisch und wurden in spezielle Klassen gesteckt, um sie an das allgemeine Niveau heranzuführen. Doch die Sprache war nicht das einzige Problem. Wahrscheinlich konnten diese Jungen mühelos mit einem M-16 umgehen oder das Geräusch eines Rettungshubschraubers von dem eines Kampfhubschraubers in der Ferne und seines Echos in den Bergen unterscheiden. Aber sie hatten weder eine Ahnung davon, wer Abraham Lincoln war, noch, was 1836 in Alamo geschehen war. Sie wussten, welche Wurzeln sie essen konnten, wenn sie ihre Essensration aufgegessen hatten, damit sie weiterkämpfen konnten. Aber von einer Quadratwurzel wussten sie nichts.
War schon der Unterricht für die verunsicherten Salvadorianer eine Tortur, so wurden die Pausen zu einem wahren Albtraum. Die Jungen spielten Baseball, American Football oder four corners, Spiele, die sie nicht verstanden. Andere – frühere Einwanderer wie die Mexikaner – bildeten Gruppen, prügelten sich und verständigten sich mittels einer komplizierten Zeichensprache. Sie waren Mitglieder von etwas, das den Salvadorianern bisher unbekannt war: Gangs. Es gab alle möglichen Gruppierungen. Die meisten bestanden aus Mexikanern oder den Nachkommen von Mexikanern, und dennoch attackierten sie sich ununterbrochen gegenseitig. Es war ein seltsames, aber ernstes Spiel, bei dem einige von ihnen am Ende tot waren. Die Toiletten und Korridore der Schulen waren von unverständlichen Symbolen übersät, die auf die Anwesenheit dieser oder jener Gang hinwiesen. Der Heimweg nach Schulschluss war der reinste Hindernislauf. Man musste wissen, welchen Weg man gehen durfte, sonst riskierte man, auf ein verbotenes Gebiet zu gelangen und Prügel zu beziehen. Die Bandenmitglieder sahen in den Neuankömmlingen die idealen Opfer. Sie waren nicht organisiert, sehr arm, und vor allem stellten sie eine lästige Konkurrenz dar. Man hatte schon mehr als genug damit zu tun, gegen die Schwarzen und ihre Gangs zu kämpfen, um sich jetzt auch noch um diese »Wilden« zu kümmern. Die Salvadorianer machten ihnen den Alleinanspruch auf den Begriff hispano streitig, und noch nie, absolut nie in der Geschichte der Menschheit ist das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen gut ausgegangen. Jedenfalls nicht für die Schwächsten.
»Die Mexikaner griffen uns auf dem Schulweg an, nahmen uns unsere Sachen ab. Sie ärgerten die Mädchen, betrachteten uns als minderwertig. Sie wollten uns mit Gewalt zwingen, ihren Gangs beizutreten«, sagte ein Veteran in einer Bar im Zentrum von San Salvador zu uns, fast zwanzig Jahre nachdem die USA ihn wie vergiftetes Essen ausgespien hatten. Er spricht nicht wie ein Opfer. Er weiß, dass ihm das inzwischen nicht mehr zusteht.
Zweifellos waren Zurückweisung und Gewalt der Grund dafür, dass sich die Neuen zusammenschlossen. Sie gingen gemeinsam zur Schule und nach Hause. Sie verstanden Los Angeles nicht, und Los Angeles verstand sie nicht. Und doch hielt die Stadt ein Geheimnis für sie bereit, das sie faszinieren sollte.
AC/DC, Slayer, Black Sabbath … Heavy Metal. Laute, harte Musik, ganz anders als die Rancheras und Balladen, die in den salvadorianischen Dörfern zu hören waren. Diese rebellischen Klänge dröhnten durch die Migrantenviertel, und auch wenn die jungen Leute die Texte nicht immer verstanden, teilte sich ihnen doch die Euphorie mit, die die starken Bässe verbreiteten. Endlich verstanden sie etwas in dem ganzen Chaos, das die Vereinigten Staaten für sie bedeuteten. Die frenetischen, dumpf dröhnenden Metal-Dezibel waren wie eine Art Ventil. Endlich verstanden sie eine der Sprachen dieser Stadt.
Alles