El Niño de Hollywood. Oscar Martínez
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Draußen dröhnt der Reggaeton. In der Gemeinde wird gefeiert. Miguel Ángel Tobars Angehörige haben die Organisatoren gebeten, das Fest um einen Tag zu verschieben, weil das Haus weniger als 100 Meter entfernt ist von der Bühne, auf der Musik gespielt wird. Das war naiv. Niemand würde eine Tanzveranstaltung wegen Miguel Ángel Tobars Tod um vierundzwanzig Stunden verschieben.
Miguel Ángel Tobar liegt halb nackt in einem weißen Plastiksack auf einem Zinktisch.
Aus dem Loch in der Mitte seines Halses sickert noch immer klebriges Blut. Die Leiche ist so frisch, dass es noch nicht ganz geronnen ist. Die Gerichtsmediziner von Santa Ana haben ihm nach der Autopsie alte Boxershorts übergezogen. Die Shorts sind blau, auf dem Bund steht elegant. Von den vier Tattoos ist nur das verzerrte Yin und Yang auf dem rechten Oberschenkel von Blutspritzern verschont geblieben. Die Buchstaben auf seiner Brust, zwischen den beiden Löchern im Hals und dem unter der rechten Brustwarze, sind unleserlich. Auf seinem linken Unterarm ist zwischen frischen Blutspritzern zu lesen: Mein wildes Leben.
Über die rechte Gesichtshälfte laufen vier Linien, Spuren geronnenen Blutes, von Stirn und Wange zum Haaransatz. Wenn man nicht wüsste, dass er erschossen wurde, könnte man meinen, eine Bestie hätte ihm das Gesicht zerkratzt.
Er starb mit offenen Augen und gleichgültigem Gesichtsausdruck.
In einem Anfall von Dummheit war Miguel Ángel Tobar fünf Monate zuvor wie jemand, der nicht sein ganzes Leben im Angesicht des Todes gelebt hat, in das Haus seiner Familie zurückgekehrt, hatte das Zuckerrohrfeld verlassen, in dem er sich monatelang versteckt gehalten hatte. Er war es leid gewesen, wie ein Vagabund zu leben. Er musste seine beiden Töchter ernähren. Er wusste, dass eine Horde Mörder nach ihm suchte, um seinen Verrat zu rächen. Er kannte sie sehr gut. Es waren seine hommies. Er wusste, dass hochrangige Führer der Mara Salvatrucha aus dem Gefängnis heraus seinen Kopf forderten. Einige von ihnen gehörten zu den Gründungsmitgliedern der Bande im kalifornischen Süden in den wilden Achtzigern. Sie wollten endlich hören, dass er tot war, dass er gelitten hatte. Sie hatten ihm gedroht, er werde nach Kiefer riechen, in Anspielung auf den Sarg, in den man ihn legen würde. Sie wussten nicht, dass Miguel Ángel Tobars Kiste aus dem noch billigeren Teakholz bestehen würde. Und dennoch war Miguel Ángel Tobar in die Gemeinde Las Pozas zurückgekehrt.
Die Gemeinde Las Pozas: Erde, eine Schule, ein riesiger Feigenbaum, eine Kneipe, ein staubiger Fußballplatz, Busch, Hitze. Das war sein Rückzugsplan.
Er hatte den problematischen Jugendlichen aus der Nachbarschaft nie erlaubt, in die MS-13 einzutreten. Auch nicht, als er selbst bereits ein Killer der Organisation war. Miguel Ángel Tobar nannte sie ganyeros, »meine Ganyeros«. Es waren acht Jungen, für die das Marihuana, das Miguel Ángel Tobar aus Guatemala mitbrachte, eine Neuheit und sein Verkauf in kleinen Mengen ein raffiniertes Verbrechen war.
Einmal im Monat überquerte Miguel Ángel Tobar die Grenze, die nur wenige Kilometer von seinem Haus entfernt verläuft. Er durchquerte den Busch, ging über Viehweiden, watete durch einen Fluss und kaufte zwei, drei oder fünf Unzen Marihuana. Er rauchte ein wenig mit seinen ganyeros und gab ihnen etwas, damit sie es verkauften und sich den kümmerlichen Gewinn teilten. Manchmal ging er nach Guatemala, um Marihuana für andere zu kaufen, in kleinen Dörfern, die nicht auf der Landkarte verzeichnet sind: El Escarbadero, El Regate. Als Lohn verlangte er von dem, der ihm das Geld gab, etwas Gras für den eigenen Konsum.
Auch als er bereits ein treuer Soldat der MS-13 war, wusste er, dass man den Ort, an dem man lebt, nicht zerstören darf. Die MS-13 aber zerstört.
Die ganyeros bewachten ihn. Sie standen nachts Wache an der Ecke der staubigen Gasse, die zum Haus seiner Familie führt. Sie informierten ihn telefonisch, wenn etwas Ungewöhnliches geschah. Mehrmals musste Miguel Ángel Tobar mit einem trabuco, einem selbst zusammengebauten Gewehr, nach draußen gehen, um Herumlungerer zu vertreiben.
Las Pozas ist das Ende. Das Ende einer Ortschaft, eines Departments, eines Landes. Und hinter Las Pozas liegt ein anderes Land. Guatemala.
Miguel Ángel Tobar wusste, dass seine Mörder die Gemeinde vor den Augen seiner treuen ganyeros durchqueren mussten, um zu ihm zu gelangen. Sie würden ihm entgegentreten müssen, ihm, der sich als Killer Respekt bei Killern verschafft hatte. Deswegen versuchte er, so selten wie möglich den Ort zu verlassen. Manchmal, um für fünf Dollar auf den Maisfeldern zu arbeiten, manchmal, um Marihuana zu besorgen, manchmal, um einen Lastwagen mit Süßigkeiten zu überfallen.
Doch am Freitag, dem 21. November 2014, beschloss Miguel Ángel Tobar aus einem ganz besonderen Grund, Las Pozas zu verlassen. Drei Monate zuvor war seine zweite Tochter geboren worden, und er fand, dass sie einen Vor- und einen Familiennamen brauchte. Bis zu jenem Tag hatte er sie »mein Eselchen« genannt.
Am frühen Morgen verließ Miguel Ángel Tobar den Ort auf einem geklauten Fahrrad, um auf Feldwegen nach San Lorenzo zu radeln, der Gemeinde, zu der Las Pozas gehört. Er näherte sich ihr vom Fluss her, über die Calle al Portillo, eine asphaltierte, zweispurige Straße, die am Fluss San Lorenzo endet.
El Salvador ist ein gewalttätiges Land. Seit Jahrzehnten. Für Miguel Ángel Tobars Generation ist El Salvador schon immer ein gewalttätiges Land gewesen, seit dem Tag, an dem sie ihren ersten Schrei auf Erden taten. San Lorenzo aber war damals ein weißer Fleck. 2013 gab es dort kein Tötungsdelikt. Kein einziges. Null. El Salvador ist in vielen Dingen gleich null – im Fußball, im Wirtschaftswachstum –, dafür aber liegt es bei Tötungsdelikten auf einem Spitzenplatz. Doch auch 2014 hatte es in San Lorenzo bis zum 21. November, dem Tag, als Miguel Ángel Tobar beschloss, sich aus Las Pozas fortzustehlen, um seine Tochter auf dem Standesamt eintragen zu lassen, keinen einzigen Mord gegeben. Zwei Jahre ohne einen gewaltsamen Tod.
Miguel Ángel Tobar betrat das Gemeindeamt gegenüber dem Park. Ein alter Straßenkehrer sah ihn hineingehen. Auch eine Frau namens Esperanza, die die städtische Gebühr für die Busse kassierte, die San Lorenzo verließen, sah ihn, und der Fahrer eines Motorradtaxis. Sie alle erinnern sich, dass er eilig und nervös um sich blickend wieder herauskam. Sie sahen ihn.
Nach einer Stunde verließ er das Gemeindeamt. Das kleine Mädchen hatte einen Namen bekommen: Jennifer Liset. Am Tag, als ihr Papa sie offiziell als seine Tochter anerkannte, wurde Jennifer Liset Halbwaise.
Miguel Ángel Tobar blieb kaum stehen, um die Leute zu begrüßen. Er stieg auf sein Fahrrad und versuchte, den gleichen Weg zurückzufahren, den er gekommen war. Er entfernte sich drei Straßen weit vom Gemeindeamt. Bog in die Calle al Portillo ein. Sah ein Motorradtaxi kommen.
Die polizeiliche Rekonstruktion seines Todes ergab Folgendes: Ein Motorradtaxi mit zwei kahl geschorenen dicken Männern um die vierzig kam ihm entgegen. Sie stießen ihn vom Fahrrad. Das Fahrrad fiel um, er rannte los. Die erste von sechs Kugeln traf ihn im Rücken.