El Niño de Hollywood. Oscar Martínez
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу El Niño de Hollywood - Oscar Martínez страница 10
Der Junge, der später El Niño de Hollywood werden sollte, flüchtete, enttäuscht von sich selbst, über die Wege der Kaffeeplantage. Doch er hatte etwas bei sich, das für seine Zukunft von unschätzbarem Wert war. Im Gürtel des Mannes, den er gesteinigt hatte, hatte er einen 38er Revolver gefunden.
Die Waffe war für Miguel Ángel nur ein kleiner Trost. Weder hatte er sich an dem Vorarbeiter für dessen Grausamkeit noch für die geschändete Ehre seiner Schwester rächen können.
Miguel Ángels Familie setzte sich aus mehreren Familien zusammen. Die Mutter, Doña Rosa, hatte eine andere Familie verlassen, aus der eine Tochter und zwei Söhne stammten. Zwei weitere Kinder waren vor Vollendung des fünften Lebensjahres gestorben. Wenn man Leute fragt, die die Familie mit den beiden toten Kindern gekannt haben, bekommt man Antworten, die mit wenigen Worten das Ende eines Menschenlebens zu beschreiben versuchen: Sie starben an Masern. Sie starben an Atemnot. Sie starben an Blähungen. Sie starben an Gehirnerweichung. Keiner weiß, woran sie gestorben sind, aber als Kind zu sterben ist normal in diesem Teil der Welt.
Ende der Siebzigerjahre, kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs, als die Herrschaft der Plantagenbesitzer durch die internationale Konkurrenz ins Wanken geriet, lernte Doña Rosa den miquero einer Hazienda kennen, Don Jorge. Miquero sein heißt, wie ein Tier zu arbeiten. Wie ein mico, ein Affe. Die miqueros hatten die Aufgabe, die Schattenbäume zu beschneiden. Schattenbäume müssen sehr hoch sein und dürfen den Kaffeesträuchern die Nährstoffe des Bodens so wenig wie möglich streitig machen. Der miquero klettert, ohne Steigeisen und Handschuhe, nur mit seiner Machete und einem Strick bewaffnet, auf die Balsambäume, Wasserapfelbäume, die Myrtenbäume oder die Lorbeerbäume, auf die sunzas, die matazanos, die nances oder die caimitos. Er beschneidet die Bäume, damit sie Schatten spenden, aber nicht zu viel, und damit sie die Sonnenstrahlen durchlassen, aber nicht zu viele.
Wenn der miquero abstürzt, wie ein Affe eben, ist das sein Problem. Doña Rosa lernte einen miquero kennen, der abstürzte. Alle schrien auf, als Don Jorge vom Baum fiel. Sie brachten ihn in seine Hütte, wo er sich mit viel Ruhe und viel Wasser erholte, so gut es ging. Aber es ging nicht gut, sein linker Arm blieb krumm und war nicht mehr zu gebrauchen. Die gebrochenen Knochen heilten so schlecht zusammen, dass er den Arm nicht mehr strecken konnte. Auch seine Wirbelsäule blieb krumm und schmerzte.
Der miquero wurde Tagelöhner und arbeitete nur noch am Boden. Als Erntearbeiter pflückte er mit einem Arm die Früchte, die im Schatten und im Sonnenlicht heranwuchsen, wofür er gesorgt hatte, bis er sich die Knochen brach.
Doña Rosa und Don Jorge zogen jahrelang von Hazienda zu Hazienda und baten um Arbeit, um welche auch immer. Sie hatten vier Kinder. Sandra, die Älteste, wurde 1979 geboren, Jorge 1981 und Miguel Ángel am 4. Januar 1984. Und ein Mädchen, an dessen Namen sich niemand mehr erinnert. Es starb, als es eineinhalb Jahre alt war. An Masern. Miguel Ángels Mutter, Doña Rosa, war auch Mutter dreier toter Kinder. Miguel Ángels Vater, Don Jorge, war Erbe der ermordeten Indios. Hatte die elende Arbeit, das Leben auf einer Hazienda und die harte Hand der Vorarbeiter von ihnen geerbt.
Sie zogen von Hazienda zu Hazienda, bis man ihnen Anfang der Neunziger die Erlaubnis gab, sich auf einer niederzulassen. Die Hazienda lag in Atiquizaya, in einem Bezirk, der – als handele es sich um einen Scherz – El Paraíso genannt wurde, »das Paradies«.
Don Jorge war Alkoholiker, und Doña Rosas Geist verwirrte sich nach und nach, bis sie am Ende vollkommen den Verstand verlor. Die Kinder wuchsen mehr oder weniger allein auf.
Der Vorarbeiter gab dem verkrüppelten Bauern Arbeit und gestattete ihm sogar, mit seiner kinderreichen Familie auf der Hazienda zu wohnen. Doch bei einem ihrer Besäufnisse mit Zuckerrohrschnaps stellte der Vorarbeiter Don Jorge eine Forderung: Er wollte seine älteste Tochter. Der Vorarbeiter wollte sie nicht als Ehefrau, denn er hatte schon eine. Er wollte sie, damit sie ihm nach der Arbeit auf der Plantage zu Willen wäre.
Don Jorge erklärte sich einverstanden. Er gab dem Vorarbeiter die Erlaubnis, seine Tochter Sandra zu vergewaltigen, so oft er wollte.
Mehrere Monate lang kam der Mann jeden Abend zu ihrer Hütte, um sich an dem fünfzehnjährigen Mädchen zu vergehen. Danach stellte er ein paar Flaschen Cuatro Ases auf den Tisch und betrank sich mit dem Vater. Der Vorarbeiter zwang Sandras Brüder, hinauszugehen, während er die Schwester missbrauchte, doch Miguel Ángel ließ sich nicht einfach so wegschicken. Er versteckte sich zwischen den Kaffeesträuchern und sah durch die Bretter der Hütte, wie der Chef seines Vaters in seine ältere Schwester eindrang.
Miguel Ángel ertrug das grausame Tun des Vorarbeiters nicht länger. Am Abend jenes 24. Dezember 1994, als in Atiquizaya Feststimmung herrschte, beschloss Miguel Ángel zum ersten Mal, jemanden zu töten. Er war ein Junge von elf Jahren, als er sich zwischen Kaffeesträuchern versteckte, um zwei Männer zu beobachten, die sich mit Zuckerrohrschnaps betranken.
DRITTES KAPITEL
Der Ursprung
Am 24. März 1980 um sechs Uhr abends hielt ein hochgewachsener, bärtiger junger Mann in einem zweitürigen roten Volkswagen vor der Kapelle einer Krebsklinik in Miramonte, einer Wohnsiedlung der Mittelschicht in der salvadorianischen Hauptstadt. Das Präzisionsgewehr Kaliber .22, das er bei sich hatte, sollte in El Salvador alles verändern.
Schon vor 1980 hatte es in dem Land Kämpfe gegeben. Die Guerilla-Gruppen waren in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre größer geworden, und die Ausbildung der Mitglieder fand innerhalb und außerhalb des Landes statt. Dennoch war die Koordinierung zwischen ihnen mangelhaft. Abgesehen von der FPL, der Fuerzas Populares de Liberación (Volksbefreiungsbewegung), unter dem Kommandanten Cayetano Carpio, der damals mächtigsten Guerillabewegung des Landes, setzten sich die Organisationen aus Akademikern, Dichtern, Denkern und, im Allgemeinen, begeisterten und romantischen jungen Revolutionären zusammen. Es fehlte ihnen an Entschlossenheit, und es fehlte ihnen an Jahren.
Auch die Regierung war kein homogenes Ganzes. Die mächtige Elite der Großgrundbesitzer und Industriellen sah sich von den neuen revolutionären Ideen der Massen bedroht, die alle zwei Wochen mit Streiks und Straßensperren die Produktion lahmlegten. Den Militärs vertraute sie nicht mehr, und die Außenpolitik des US-amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter erschien ihr fast kommunistisch.
Es gab nur eine einzige Person, die sowohl den Respekt der Militärs als auch den der Plantagenbesitzer, der Industriellen und der politischen Klasse genoss: General José Alberto »Chele« Medrano. Er war ein Militär der alten Schule, ein Haudegen, rücksichtslos und brutal. Kurz, all das, was von einem salvadorianischen Mann erwartet wurde. Er war Kommandant der Nationalgarde gewesen und hatte sich sein hohes Ansehen im letzten, schmerzlichen Krieg zwischen mittelamerikanischen Staaten erworben, als er die gefürchteten Nationalgardisten bei der Invasion von Honduras im Jahre 1969 befehligte. Es hatte eine Reihe von Scharmützeln an der Grenze zwischen El Salvador und Honduras gegeben, die einhundert Stunden andauerten. Der berühmte polnische Journalist Ryszard Kapuściński bezeichnete den Konflikt als »Fußballkrieg«, weil drei Qualifikationsspiele für die Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko diesen ernsten Konflikt ausgelöst hatten. El Salvador gewann zwei der drei Spiele gegen Honduras und fuhr zum ersten Mal in seiner Geschichte zur Weltmeisterschaft. Dort verloren sie alle Spiele und erzielten kein einziges Tor.
In jenen Jahren Kommandant der salvadorianischen Nationalgarde zu sein war so ähnlich, wie Kommandant der Gestapo in Nazi-Deutschland zu sein. Die