El Niño de Hollywood. Oscar Martínez
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1975 pfiffen die Kugeln ununterbrochen und in beide Richtungen. Die Guerillagruppen versorgten sich mit Waffen, indem sie bedeutende Unternehmer entführten und Lösegeld für sie verlangten. Sie zogen sich in die abgelegensten Landgemeinden zurück, Orte, die von den marxistischen Lehrbüchern am wenigsten empfohlen wurden. Dort entstanden die ersten Feldlager, die immer größer wurden, als die Bauern, die die Repression des Militärs nicht länger ertragen wollten, zu ihnen stießen.
1979 änderte sich in Mittelamerika alles. In Nicaragua schlossen sich die Guerillagruppen zusammen und beseitigten das Regime von Anastasio Somoza Debayle, das dritte einer Dynastie, die vorhatte, sich auf ewig an der Macht zu halten. Dies war das leuchtende Vorbild, auf das die salvadorianischen Guerilleros gewartet hatten. Es war also möglich, mit Waffengewalt eine sozialistische Regierung zu installieren. Die Kämpfe wurden heftiger. Die Rückzugsorte auf dem Land rüsteten auf. Die US-amerikanische Regierung, die um einen ihrer Hinterhöfe fürchtete, intensivierte ihre Unterstützung der salvadorianischen Militärjunta durch Finanzhilfen und militärische Beratung. Ende ’79 wurde ein staatlicher Geheimdienst eingerichtet und eine Gruppe zur Infiltration der Guerillas gebildet, bekannt unter dem Namen ORDEN (Organización Democrática Nacionalista). Kuba und das neue, sozialistische Nicaragua wiederum begannen, die Aufständischen mit Geld und militärischer Ausbildung zu unterstützen.
Für all dies brauchte man Menschen und vor allem Menschenhände, die die Waffen bedienten. In einem Land, dessen Bevölkerung zu 60 Prozent aus Kindern bestand, war das Ergebnis vorhersehbar. Auf beiden Seiten wurden Tausende von Jungen unter fünfzehn Jahren rekrutiert. Der Krieg ist eine Bestie, die sich von jungem Fleisch ernährt.
Das kleine El Salvador, das zwanzig Mal in den Bundesstaat Kalifornien passt, stürzte sich mit seiner Kinderarmee in einen Abgrund, aus dem es erst 1992 mit mehr als 75.000 Toten und unzähligen Vertriebenen auf dem Konto wieder hervorkriechen sollte.
Mit den Jungen, die diesem Wahnsinn entronnen waren, wollten die Disco-Jungs der Partygangs von Los Angeles also ihren Puls messen. Sie glaubten, es könnte lustig werden.
Die Totenwache
Miguel Ángel Tobar liegt tot im Haus seiner Mutter. Draußen wird gefeiert.
In Las Pozas, einer Gemeinde im Westen El Salvadors, findet ein Fest statt. Es ist Samstag, der 22. November 2014. Gestern wurde Miguel Ángel Tobar ermordet. Die Menschen feiern den Jahrestag der Gründung der Gemeinde, und die Bezirksverwaltung von San Lorenzo hat eine Tanzveranstaltung organisiert. Eine Plastikplane trennt die, die 50 Centavos Eintritt bezahlt haben, von denen, die nicht gezahlt haben. Aus scheppernden Lautsprechern, die die Musik verzerren, dröhnt Reggaeton. Die Lichter und der Lärm der kleinen Gemeinde heben sich von der vollkommenen Dunkelheit ab, die über den umliegenden Viehweiden und Maisfeldern herrscht. Es weht ein starker Wind. Für salvadorianische Verhältnisse ist es ein kühler Abend.
Gestern wurde Miguel Ángel Tobar ermordet. Heute wird er zum Rhythmus der evangelikalen Kirchenlieder betrauert. Die Kirchenlieder gehen im Gedröhn des Reggaeton unter, und so wird er in Wahrheit zum Rhythmus des Reggaeton betrauert.
Es ist zehn Uhr abends, die Männer auf dem Tanzfest sind schon betrunken. Sie fixieren die Leute und lauern auf eine Gelegenheit, eine Schlägerei vom Zaun zu brechen. Sie taumeln über die Tanzfläche, eine Hand am Hut, in der anderen eine Viertelliterflasche Cuatro Ases. Ein dubioser Schnaps: Es ist weder Rum noch Wodka, sondern guaro, Zuckerrohrschnaps. Vier Soldaten halten sich im Dunkeln neben der Bühne auf. Sie werden sich nicht einmischen, es sei denn, irgendjemand zückt eine Machete oder holt eine Pistole oder ein Gewehr hervor. Wegen zwei Betrunkenen, die sich prügeln, werden sie nicht eingreifen.
Las Pozas besteht aus Erde. Die Straßen sind aus Erde, die Häuser sind aus Erde, und wenn die Erde austrocknet, verwandelt sich die Gemeinde in eine Staubwüste. Dann setzt sich der herumwirbelnde Staub in den Mundwinkeln und den Falten am Hals fest, in den Haaren, im Schweiß, irgendwo, um Halt zu finden. Doch an diesem angenehm kühlen Abend schwitzt niemand.
In einer der Seitengassen, fast direkt gegenüber der Gemeindeschule, liegt Miguel Ángel Tobar in seinem Geburtshaus in einem Teakholzsarg. Um ihn herum alte Frauen, die unwirsch etwas vor sich hin murmeln. Es sind die obligatorischen Totengebete. Vor dem Sarg sitzt, ganz allein, auf einem Plastikstuhl, seine Mutter und starrt auf den Boden. Sie ist eine kleine Frau, und der Kummer über den ermordeten Sohn scheint sie noch weiter reduziert zu haben. Wenige Monate später wird sie an Krebs sterben.
Sie weint nicht. Es ist bereits die zweite Totenwache, die sie für einen ihrer Söhne hält. Das zweite Mal, dass sie die Mutter eines Ermordeten ist.
Der Boden des Hauses ist ebenfalls aus Erde. Das Dach und die Tür sind aus Blech, die Mauern aus nackten Backsteinen. Das Haus besteht aus einem einzigen Raum, in dem drei Betten stehen. Die Betten sind durch aufgehängte Decken voneinander abgetrennt, die verhindern, dass man das andere Bett sehen, aber nicht, dass man hören kann, was dort gesprochen wird. Eines der Betten ist für die Mutter. Der Vater ist nicht mehr da. Er hat sich vor nicht einmal einem Jahr erhängt. Er konnte die Erinnerung an ein Massaker nicht ertragen, bei dem die MS-13 vier seiner Verwandten getötet hatte. Auch den älteren Sohn. Im zweiten Bett schlafen Miguel Ángel Tobars ältere Schwester und ihr Mann. Allerdings sitzt ihr Mann zurzeit wieder mal im Gefängnis, weil er Marihuana aus Guatemala über die Grenze geschmuggelt hat. Im dritten Bett schliefen bis gestern Miguel Ángel, seine junge Frau und seine kleinen Töchter, die eine drei Jahre, die andere drei Monate alt. Die Küche ist überall da, wo Zweige verbrannt werden können. Die Toilette ist ein mit Brettern und Blechplatten überdachtes Kabuff auf dem Hinterhof.
Auf dem Hinterhof stehen die Männer, etwa zehn, trinken Kaffee und essen süßes Brot, das ihnen von den Frauen gereicht wird. Das süße Brot kommt nicht aus der Bäckerei, ist nur mit Zucker bestreut und nicht mit Zucker gebacken. Die vierzehn Frauen singen und klatschen dazu in die Hände: Die Macht Gottes ist hier unter uns, die Macht Gottes ist hier unter uns. Es ist eine Totenwache auf dem Land: arme Frauen, die fromme Lieder singen, Kaffee im Überfluss, Brot, Zucker und ein Pastor, der gleich ein Gebet sprechen wird.
Eine ärmliche Totenwache. Es fehlt die gewöhnliche Dramatik der Totenwachen für Bandenmitglieder, bei denen Dutzende von jungen Männern den Angehörigen Spenden überreichen und sich in eine Schlange stellen, um sich nacheinander unter Tränen und Racheschwüren von ihrem homeboy zu verabschieden. Nichts davon heute. Die Totenwache für Miguel Ángel Tobar ist der Abschied von einem Aussätzigen. Keiner seiner ehemaligen Freunde von der Gang kann hier sein, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Die einen hat er umgebracht, die anderen sitzen wegen ihm im Gefängnis.
Ein Mann schaut durch die offene Tür und fragt etwas, das offensichtlich ist:
»Liegt hier der Verstorbene?«
Es handelt sich um den Pastor. Er ist dunkelhäutig und sehr korpulent. Seine Kleidung ist abgetragen, seine Schuhe sind staubbedeckt. Er war fast zwei Stunden unterwegs. Begleitet wird er von zwei Frauen, die Schleier tragen. Der Pastor spricht vom Jenseits. Er verrät keine Einzelheiten, er weiß