Auf lange Sicht (E-Book). Marie-José Kolly
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Simon Schmid
Publiziert am 08.04.2019
Der Klimawandel ist in der Populärkultur angekommen – mit bunten Grafiken. Doch wie funktionieren sie genau? Ein Exkurs in die Farbenvisualisierung – mit all ihren Fallstricken.
KLIMA
Die Grafik, um die es in diesem Beitrag geht, wird auf Krawatten, Flip-Flops und Leggings gedruckt – obwohl es sich nur um eine simple Temperaturvisualisierung handelt. Sie wurde vom britischen Professor Ed Hawkins erfunden und heisst warming stripes (G15) – Wärmestreifen. Die populäre Grafik zeigt, wie sich die Temperatur in den vergangenen rund 150 Jahren verändert hat. Man erkennt darauf sofort, dass es wärmer geworden ist und irgendetwas an dieser Entwicklung nicht normal sein kann. Dies wollen wir hier näher erforschen. Wie kommt es eigentlich, dass diese Grafik derart selbsterklärend und zugleich mitreissend ist?
Die Farben
Die offensichtliche Antwort: Es sind die Farben. Sie üben auf unser Gehirn eine magische Wirkung aus, lassen uns Zusammenhänge erkennen, bevor wir überhaupt aktiv über sie nachdenken. Die Macht der Farben wird klar, wenn man dieselben Temperaturdaten in anderer Form betrachtet: nicht als Farbstreifen-Diagramm, sondern als Liniengrafik (G16). Auch hier erkennt man, dass ab etwa 1980 ein Aufwärtstrend einsetzt. Zuvor bewegen sich die Temperaturen im Bereich von 4 bis 5 Grad, danach steigen sie auf über 6 Grad. Doch das mentale Verarbeiten dieser Information dauert länger und ist aufwendiger. Die Aufmerksamkeit ist nicht automatisch gegeben: Man muss genauer hinschauen, «den Kopf einschalten», um dieselbe Botschaft zu verstehen. Die krakelige, leicht ansteigende Linie interessiert das Auge weniger als das Farbmuster auf den Wärmestreifen. Farben also. Doch dies ist erst der Anfang vom Zauber des Klimastreifens.
Welche Farben?
Nebst der Farbcodierung per se spielt auch die Farbauswahl eine wichtige Rolle. Welche Farbe symbolisiert kalt, welche Farbe symbolisiert warm? Die naheliegende Codierung richtet sich nach der Konvention: Blau repräsentiert das kalte, Rot das warme Spektrum. Wir verstehen diese Codes intuitiv, weil wir sie aus der Natur kennen: Wasser ist blau, Feuer ist rot. Und Rot bedeutet oft auch: Vorsicht, hier geschieht etwas Gefährliches! Diese Analogie ist sogar in der Sprache verankert. Ist etwas «im roten Bereich», so droht Gefahr. Welche Wirkung entfaltet dieser Code auf der grafischen Ebene? Um dies zu testen, können wir dieselben Daten in anderer Codierung visualisieren. Beispielsweise mit umgekehrten Farben (G17) (Rot = kalt, Blau = heiss) oder in Braun und Grün. Welchen Eindruck machen diese Grafiken auf Sie? Sehr wahrscheinlich haben Sie beim Betrachten festgestellt: Die beiden Streifen sind zwar auch irgendwie schön, aber sie vermitteln nicht dieselbe Dringlichkeit. Natürlich klingt das etwas banal: Kein Forscher käme je auf die Idee, ein Klimadiagramm zu zeichnen, auf dem heisse Temperaturen in Blau dargestellt sind. Allerdings – und darum geht es hier – ist ein Farbschema stets eine bewusste Entscheidung. Oft ist sie kniffliger, als man erwarten würde. Stets muss dabei eine Reihe von Fragen beantwortet werden.
G15 | DIE SCHÖNSTE KLIMAGRAFIK DER WELTTemperaturabweichungen in der Schweiz von 1864 bis 2018 |
Dargestellt ist die Abweichung von der Normperiode 1961 bis 1990: Die Farbcodierung entspricht +/– 2,5 Grad. QUELLE: Meteo Schweiz
G16 | DIE LINIE HINTER DEM CHARTMittlere Jahrestemperaturen in der Schweiz |
QUELLE: Meteo Schweiz
Die Normperiode
Die erste Frage lautet: An welchem Punkt auf dem Thermometer setzt man das Farbschema an? Bisher lag dieser Punkt bei 4,6 Grad Celsius. So hoch war die mittlere Temperatur im Durchschnitt über die Jahre 1961 bis 1990. Ein solcher Zeitraum wird als Normperiode (G18) bezeichnet. Konventionsgemäss sieht die Weltorganisation für Meteorologie einen 30-Jahres-Rhythmus für solche Normperioden vor.
1961 bis 1990 ist demnach die aktuelle Periode. Sie dient in unseren Wärmestreifen als Anker des Farbschemas. Das bedeutet: Jahre, in denen die Temperatur just bei 4,6 Grad Celsius lag, entsprachen genau der Norm und wurden deshalb in weisser Farbe gezeichnet. Jahre mit höheren Temperaturen lagen über der Norm und wurden in Rot, Jahre mit tieferer Temperatur in Blau dargestellt.
Es gibt jedoch kein Naturgesetz, das befiehlt, welcher Zeitraum als Normperiode zu gelten hat. So werden Temperaturabweichungen manchmal zur Periode von 1981 bis 2010 angegeben. Die mittlere Temperatur während dieser Zeit lag bei 5,4 Grad. Anders als der Originalwärmestreifen suggeriert ein Streifen basierend auf dieser neuen Periode generell ein kühleres Klima. Erst gegen Ende des Jahrtausends scheinen sich die Temperaturen langsam zu erwärmen. Zudem erscheint die jüngste Vergangenheit in weniger bedrohlichem Rot als beim originalen Farbstreifen. Die Normperiode beeinflusst also den Schluss, den wir aus der Grafik ziehen.
Die Skala
Doch es geht noch weiter. Man muss auch hinsichtlich des Temperaturspektrums, das die Farbskala (G19) abdeckt, einen bewussten Entscheid fällen:
—Legt man das Spektrum von –1 bis +1 Grad Celsius fest, so erscheint alles, was ausserhalb dieser beiden Werte liegt, entweder tiefblau oder tiefrot. Die Skala stellt also zum Beispiel die beiden Werte von +0,2 und +0,5 Grad mit unterschiedlichen Rottönen dar, verwendet aber dasselbe dunkle Rot für die Werte +1,0 und +1,3 Grad. Ein bedeutender Anteil der Datenpunkte wird somit in den extremen Farbtönen Dunkelblau und Dunkelrot dargestellt.
—Legt man das Spektrum hingegen auf –5 Grad bis +5 Grad Celsius fest, so erscheint selbst das kälteste Jahr, 1879, trotz einer Abweichung von –1,7 Grad gegenüber der Normperiode nicht im dunkelsten Blau, sondern eher hellblau.
—Und trotz einer Abweichung von +2,3 Grad gegenüber der Norm manifestiert sich das wärmste Jahr, 2018, nicht im dunkelroten, sondern im blassroten Farbton.
G17 | DER EINFLUSS VON FARBENTemperaturabweichungen in der Schweiz von 1864 bis 2018 |
Dargestellt ist die Abweichung von der Normperiode 1961 bis 1990: Die Farbcodierungen entsprechen +/– 2,5 Grad. QUELLE: Meteo Schweiz
Bei unserem Beispiel liegt es auf der Hand, dass die beste Variante irgendwo in der Mitte liegt – zum Beispiel bei einem Temperaturspektrum von +/– 2,5 Grad. Auch hier gilt: Es gibt kein eindeutiges Richtig oder Falsch. Dies zeigt sich auch, wenn man nicht mehr bloss eine Datenreihe visualisieren will, sondern mehrere Datenreihen gleichzeitig. Zum Beispiel: die Daten zu den Temperaturschwankungen der Jahreszeiten. Erneut tauchen Fragen auf, die wir klären müssen.
Ein Bezugspunkt
Die Jahreszeiten sind relevant, weil der Klimawandel nicht