Stumme Schreie. Martin Flesch
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Der Weg entsteht unter ihren Füßen …!
IV.Intermezzo – Perspektivenwechsel
„Die Entmystifizierung beginnt.
Du merkst,
dass Du keine Luft mehr bekommst und sich Deine Augen mit Tränen füllen, während jener Satz in Deinem Gehirn hämmert, (den niemand je öffentlich ausgesprochen hat): „Du bist ein N-icht-s, N-icht-s, N-icht-s …“
G. Kapllani 5
Wer die – dem internationalen Journalismus und den einzelnen Presseorganen zu entnehmenden – Informationen und Situationsschilderungen aufmerksam liest, wird feststellen, dass die nationalen und internationalen Berichterstattungen häufig von statistischen Kennwerten und Daten gespeist werden. Dieser Umstand ist zunächst nicht weiter zu beanstanden, benötigen wir doch diese Parameter, um uns über das Ausmaß der jeweiligen Flüchtlingsbewegungen mit ihren Realitäten und Unwägbarkeiten auseinanderzusetzen.
Natürlich ist es unabdingbar zu wissen, wie viele Menschen in einem Flüchtlingslager leben, um wie viele Personen das Lager bereits überfüllt bewohnt wird, wie viele Millionen sich derzeit im Rahmen der Migrationsbewegungen auf und um den Globus bewegen und wie viele Bewohner eine Gemeinschaftsunterkunft an einem bestimmten Ort hat. Dazu gehören selbstverständlich auch die – eigentlich vermeidbaren – Zahlen der regelmäßig im Mittelmeer und anderen Gewässern Ertrinkenden.
Dennoch übernimmt im Rahmen solcher Formen der Berichterstattung die – wenn man es so nennen will – Kameraführung eine weit von dem einzelnen Betroffenen entfernte Perspektive, die sich immer weiter davon wegbewegt, je nachdem, ob man der Statistik oder aber dem konkreten Geschehen die entsprechende Gewichtung beizumessen pflegt. Die sogenannte „Vogelperspektive“ beleuchtet – statistisch betrachtet – das ganze Ausmaß der Migrationsprozesse, kann aber, das liegt in der Natur ihres Fokus, damit dem Einzelfall nicht mehr gerecht werden.
Insofern sei an dieser Stelle dazu eingeladen, den Fokus auf das Schicksal und die Situationsentwicklung ganz konkreter Einzelperspektiven zu lenken. In diesem Moment zeigt sich die Realität, die eigentliche Welt in ihren untrüglichen Dimensionen, verbunden mit zahlreichen Hürden, Problemfeldern und, wiederum bemühen wir diesen Begriff, mit Grenzen, die aus der Sicht des Einzelnen oft undurchdringlich wirken und sich nicht selten auch als unbezwingbar herausstellen.
Die seelische Substanz, die diese negativ konnotierten Resonanzen in der Regel aufrechterhält, ist die in nahezu jedem Flüchtling grundgelegte Angst auf sämtlichen Erfahrungsebenen. Dieses anhaltende Gefühl, die Kontrolle über die Situation und das Leben verlieren zu können, ist dabei aus der Perspektive der mit den Betroffenen Befassten oft nicht hinreichend zu bemerken bzw. in einem angemessenen Maße zu erspüren.
Es ist eine Sache, aus der Perspektive einer medizinischen Abteilung zu berichten, die sich breitflächig um die interdisziplinäre ärztliche und pflegerische Versorgung von Migranten kümmert, Untersuchungen vornimmt, Diagnosen stellt, Medikamente verordnet und den weiteren Krankheitsverlauf dokumentiert.
Eine weitere Erzählperspektive ist die von ehrenamtlichen Helfern, die Zuwendung signalisieren, Kontakte vermitteln, Nähe spenden, Betreuungsangebote organisieren, Sprachvermittlungskurse ermöglichen und einfach Hilfe anbieten.
Mitunter – weit davon abweichend – steht jedoch der einzelne Betroffene im Fokus ihn umgebender Systeme, behördlicher Strukturen und ehrenamtlich in die Wege geleiteter Hilfs- und Betreuungsangebote.
Der Migrant selbst, angekommen im Zielland, wird registriert und umverteilt, zugeteilt, aufgeteilt, rationiert, beurteilt und interviewt.
Registriert und dokumentiert werden die Lebens- und Fluchtgeschichte, sie werden geglaubt oder angezweifelt, hinterfragt oder abgelehnt. Dabei berichten die Betroffenen lediglich ganz konkret, was ihnen auf dem Weg in den Zielstaat widerfuhr, häufig geprägt von Verfolgung, Gewalt, Inhaftierung, lebensbedrohlichen Momenten, Verlusten von Familienangehörigen, Lebensmittelknappheit und weiteren zahlreichen Entbehrungen.
Nahezu jede und jeder, auf der Flucht mit Situationen konfrontiert, die traumatisierend einwirkten, sieht sich mit dem oft kaum lösbaren Problem konfrontiert, diese Erlebnisse im Erstinterview in der Aufnahmeeinrichtung wieder schildern zu müssen. Denn oft stellt sich ihnen die Angst einfach in den Weg.
Gerade in diesen Situationen holt den Flüchtling die furchtbare Situation wieder ein. Kann er im selben Moment, jetzt, gegenwärtig, in diesem Augenblick überhaupt davon sprechen? Wird ihm nicht wieder, wie schon so oft, gerade jetzt, wo alles Gesagte zählt und über Akzeptanz oder Ablehnung seines Flüchtlingsberichtes entscheiden wird, die Stimme vor Angst versagen?
Jene Angst, mit welcher er schon seit Monaten zu kämpfen hat, die ihn nachts immer wieder aufsucht, die er gegenüber seinen Familienmitgliedern verschweigt, die es ihm verunmöglicht, dem dokumentierenden und kurz und knapp nachfragenden Beamten der Asylbehörde Rede und Antwort zu stehen?
Ahmad aus Afghanistan berichtete beispielsweise später in der ärztlichen Sprechstunde, „wie auf Knopfdruck“ habe alles gehen müssen. Er habe keine Zeit gehabt, Gefühle sprechen zu lassen, alles zu rekapitulieren, die richtige Formulierung zu finden. Wer wisse schon, was er da auf dem Weg von Afghanistan nach Deutschland erlebt habe, wer könne das wirklich beurteilen. Man sei stets nur an harten Fakten interessiert. Die kleinsten Unregelmäßigkeiten im Fluchtbericht würden angezweifelt und damit seine gesamte Glaubwürdigkeit.
Der Flüchtling und seine Angst. Mit ihr bleibt er häufig alleine zurück, immun gegenüber den Familienmitgliedern, den ihn umgebenden Migranten, den ehrenamtlichen Helfern, den Ärzten.
Treffend berichtete Ahmad weiter von seinen Gefühlsabdrücken, die ihn über Monate aus der Bahn warfen:
„Angst kann nur ganz persönlich und existenziell erlebt werden. Niemand kann sie so verspüren wie Du selbst. Angst hat viele Facetten, wird bedrohlich und reißt Dich aus allen Bezügen.
Angst nimmt Dir die Hoffnung, zieht Dir den Boden unter den Füßen weg, zieht Dich in ein Loch.
Es beginnt oft mit einem dumpfen Gefühl, gefolgt von dem Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, Du zitterst, erst an den Händen, dann an den Armen, dann am ganzen Körper, Du schläfst kaum und bekommst Alpträume …“
Nur der Blick auf den Einzelfall, die Hinwendung zum Einzelschicksal vermag uns das tatsächliche Ausmaß der seelischen Zustände von Geflüchteten vermitteln, die einst auszogen, um Grenzen zu überwinden und irgendwo anzukommen, einfach um der Angst zu weichen.
Der Perspektivenwechsel führt zur Entmystifizierung des Einzelfalles …!
Folter (Moussa)
Syrien
V.Kasuistik 2: Folter (Moussa) – Syrien