Stumme Schreie. Martin Flesch
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Die verordneten Psychopharmaka helfen nur bedingt, auch die zusätzliche Bedarfsmedikation stabilisiert nur annähernd. Entscheidend bleiben die Gespräche, Alik spricht über die Zukunftsängste und die Hoffnungslosigkeit, die Perspektivlosigkeit und immer wieder über die alles zersetzende Angst.
Die Verhältnisse in der Unterkunft werden unerträglich, die Familie sieht sich auch ethnischen Konfliktszenarien ausgesetzt. Rangeleien und Beschimpfungen treten auf, Alik gerät an die Grenzen seiner Stabilität.
Auf Empfehlung des behandelnden Psychiaters darf die Familie schließlich im Jahr 2015 – kurz nach der Geburt der Tochter Alicia – die Unterkunft verlassen und im Einverständnis mit der Asylbehörde in eine winzige, vom Helferteam der Gemeinschaftsunterkunft vermittelte Wohnung umziehen. Der erste Schritt in Richtung einer doch noch lebenswerten Zukunft scheint geschafft. Alik wird eine Arbeit als Hilfskraft in einer Schreinerei vermittelt. Die wöchentlichen Gespräche bei dem Psychiater kann er mittlerweile auf 14 Tage entzerren. Dann kommt es zu einer langsamen, jedoch spürbaren Verbesserung des psychischen Zustandes, Angstattacken treten nur noch selten auf. Der behandelnde Psychiater dokumentiert eine deutliche Stabilisierung.
Im Jahr 2016 setzt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge diesem hoffnungsgeprägten Bild ein jähes Ende. Mit Bescheid der Asylbehörde wird der Familie die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, die Anträge auf Asylanerkennung werden abgelehnt, auch der subsidiäre Schutzstatus wird nicht zuerkannt. Alik wird aufgefordert, mit seiner Familie die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen.
Die Ohnmacht ist zurückgekehrt, der Kampf beginnt erneut – zunächst in der Seele von Alik. Von Angstattacken und Zitteranfällen gepeinigt, verliert er endgültig den Boden unter den Füßen. Die Ängste steigern sich bis zur Unerträglichkeit. Alik kämpft sich durch Alpträume, in der Nacht ist er davon überzeugt, sogleich von Uniformierten abgeholt zu werden, die Fantasien werden grenzenlos. Er schreit, zittert, weint und bekommt Herzrhythmusstörungen. Der behandelnde Psychiater weist ihn schließlich zur stationären Behandlung in eine psychiatrische Klinik ein. Dort wird 14 Tage behandelt, dann medikamentös eingestellt. Nachdem die Ärzte ihm bescheinigen, nicht suizidal und fremdgefährdend zu sein, wird er entlassen. Alik fühlt sich noch wie betäubt. Er kehrt in die Wohnung zurück.
Mittlerweile hat der von ihm beauftragte Rechtsanwalt Beschwerde gegen den Bescheid der Asylbehörde eingelegt. Der Psychiater erstellt eine gutachterliche Stellungnahme, legt die überdauernde psychische Störung von Alik dar, geht auf die Zusammenhänge seiner Ängste ein, beschreibt den Krankheitsverlauf und spricht sich aus ärztlicher Sicht für ein Abschiebeverbot aus.
Nun folgt eine mehrmonatige Odyssee, geprägt von einem Leben zwischen den Welten, Unsicherheiten, Hoffnungen, enttäuschten Szenarien und wieder erneuten Hoffnungen. Die psychische Stabilität kehrt nicht zurück.
Mehrere Bescheide folgen aufeinander, von Verwaltungsgerichten, vom Verwaltungsgerichtshof, von behördlichen Stellen.
Die Familie gibt nicht auf, der Rechtsanwalt bleibt bemüht, bleibt aktiv. Der behandelnde Psychiater setzt seine ärztlichen Interventionen fort. Die weiteren Monate sind geprägt von schier unaushaltbaren Zuständen der Ungewissheit. Mittlerweile bildet auch Nure eine anhaltende Depression aus, kann zeitweise die Kinder kaum noch versorgen.
Das Jahr 2019 bleibt ein Jahr der stetigen Auseinandersetzungen mit den Asylbehörden, dem Einreichen ärztlicher Atteste und Gutachten, Gerichtsterminen und dem Kampf gegen die Ängste, die alle zu verschlingen drohen. Selbst die Reisefähigkeit wird Alik von ärztlicher Seite abgesprochen.
Im Februar 2020 ereilt die Medizinische Abteilung ein verzweifelter Anruf. Es meldet sich Alik, welcher mitteilt, er sei mit seiner Frau und den Kindern von den Behörden abgeholt worden, aus der Wohnung herausgeholt worden und befinde sich nunmehr auf dem Weg zum Flughafen. Es gebe keine Hoffnung mehr, man werde jetzt abgeschoben, er sende einen Hilferuf, er wolle nicht mehr leben, alles sei sinnlos geworden. Dann legt er auf. Wenig später meldet sich Nure, weint, schreit und berichtet den gleichen Sachverhalt, sie sendet einen Hilferuf. Dann bricht der Kontakt ab …
Ursprünglich hatte die Asylbehörde bereits im Jahr 2016 festgestellt, dass bei Alik, Nure und den beiden Kindern keine Abschiebungsverbote vorlägen. Eine Abschiebung gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG sei dann unzulässig, wenn sich dies aus der Anwendung der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergebe. In Betracht komme dabei in erster Linie eine Verletzung des Art. 3 EMRK8 und damit die Prüfung, ob im Fall einer Abschiebung der Betroffene tatsächlich Gefahr liefe, einer dieser absoluten Schutznorm widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden.
Dem Antragsteller Alik drohe in der Ukraine keine durch einen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur verursachte Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Die Abschiebung – trotz schlechter humanitärer Verhältnisse – könne demnach nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein. Die gegenwärtigen humanitären Bedingungen in der Ukraine führten jedoch nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung der Antragsteller eine Verletzung des Art. 3 EMRK8 vorliege. Die hierfür vom EGMR8 geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Antragsteller sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Es drohe den Antragstellern auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebeverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führe.
Bei strahlendem Sonnenschein im kalten Februar 2020 berührt die Maschine aus Deutschland gerade die Landebahn des Flughafens von Kiew …
III.Plattform – Seelentröstung
„Der Weg entsteht unter deinen Füßen …
Luise Reddemann 9
Ich schreibe diese Zeilen zwischen März 2020 und Januar 2021, während der durch die COVID-19-Pandemie ausgelösten Krise, in Deutschland, in Europa, weltweit.
Derzeit gilt unsere beständige Sorge den Möglichkeiten zur Eindämmung der schwankenden Infektionskurven. Wir suchen fieberhaft und mit Nachdruck nach einem Impfstoff. In unserem Land stand das öffentliche Leben wiederholt weitgehend still, wir wissen nicht, wie lange uns diese Situation der Ungewissheit in ihren Bann schlägt. Wir leben auch nach epidemiologischen, hygienischen und weiteren vorgegebenen Grundregeln, um das Virus nicht selbst zu verbreiten und um uns selbst und Dritte zu schützen. Unsere Bewunderung, unsere Anerkennung und unsere Beifallskundgebungen gelten in diesen Tagen den bis an die Grenzen beanspruchten und darüber hinaus belasteten Angehörigen der medizinischen Berufe in Ambulanzen, Krankenhäusern und vor allem auf den Intensivstationen. Für uns in Deutschland und Europa lebende Bürgerinnen und Bürger scheint es nahezu selbstverständlich, in Krisenzeiten auf ein gut ausgerüstetes und aufgestelltes Gesundheitssystem zurückgreifen zu können, welches in der Lage ist, rasch, akut und zielführend einzugreifen, zu therapieren und Menschenleben zu erhalten.
Ich selbst bin Arzt, genauer Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 25 Jahren widme ich mich hauptsächlich psychisch belasteten und psychisch schwer erkrankten Menschen, die im Zusammenhang mit ihrer psychischen Störung erst verhaltensauffällig und dann später straffällig werden. Ich vertrete ihre psychiatrische Ebene bei Gericht, beurteile ihre Schuldfähigkeit und befasse mich in diesem Zusammenhang mit prognostischen Gesichtspunkten