Reportagen 1+2. Niklaus Meienberg
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Moulier-Boutang seinerseits hat Althusser, in seiner minutiösen, spannend geschriebenen, an Richard Ellmanns oder Jean Lacou-tures Methode erinnernden Biographie, die auf Tausenden von unpublizierten schriftlichen und mündlichen Quellen fusst, erst bis zum Jahre 1956 behandelt (manchmal wie ein Psychiater: 505 Seiten). Man wartet gespannt auf den zweiten Band. Einen Abschnitt der französischen Geistes- und Politgeschichte muss man jetzt schon anders lesen.
PS: Warum tötete Louis Althusser?
Das Rätseln um den französischen Philosophen Louis Althusser geht weiter. Zwei Psychiater aus Bordeaux haben an einer medizinischen Fachtagung eine neue Hypothese vorgelegt, warum Althusser 1980 seine Frau Hélène erwürgt hat.
Nicht aus Mitleid habe der berühmte Philosoph getötet, auch nicht getreu einem Selbstmord-Pakt zwischen Opfer und Täter, meinen Michel Bénézech und Patrick Lacoste, die beiden Psychiater: «Vielmehr weist alles darauf hin, dass es sich um ein Drama der Leidenschaft handelt, einen Konflikt von Liebe und Hass.»
Die beiden auf Kriminalfälle spezialisierten Psychiater stützen sich, wie die Zeitung «Le Monde» berichtet, vor allem auf die letztes Jahr erschienenen autobiographischen Schriften von Althusser (TA vom 25. September). Der marxistische Philosoph habe enorme Angst gehabt, seine Frau verlasse ihn, wofür sich die Anzeichen in den letzten Wochen vor der Tat verstärkt hätten: «Wir haben es hier mit einem Typ von Beziehung zu tun, wie sie Mutter und Baby verbindet. Wenn eine solche Beziehung zu zerbrechen droht, besteht eine existentielle, vitale Gefahr und das Risiko, dass es zu einer mörderischen Tat kommt», glauben die Psychiater. Um der Trennungsangst zu entgehen, habe Althusser es vorgezogen, «das Objekt seiner Emotionen zu vernichten und so im Tod unbeschränkt zu besitzen».
Althussers Tat hatte in der französischen Öffentlichkeit ungläubiges Entsetzen ausgelöst. Da der Philosoph für nicht zurechnungsfähig erklärt wurde, kam es zu keinem Prozess. Althusser wurde in einer Klinik interniert und später freigelassen. Er starb 1990.
Althusser litt während Jahrzehnten an Depressionen und wurde immer wieder in Kliniken behandelt. Mit seiner Frau Hélène lebte er zurückgezogen in einer Dienstwohnung in der berühmten Pariser Ecole Normale Supérieure, an der der Philosoph unterrichtete. Althusser, dessen Bücher international Aufsehen erregten und viel diskutiert wurden, kannte Hélène seit 1946. Von der Ehehölle des Paars wussten selbst Freunde und Schüler nichts.
Quellen und wie man sie zum Sprudeln bringt*
«Die Reformazzen memen immer, nur die schriftl. Überlieferung sei gültig. Ha!, sagten die Katholen, es gibt auch noch die mündliche. Das ist ein alter Religionskrieg. Und siehe da, deswegen ist die Tradition und ihre Schreibung, die Geschichts-Schreibung, bei K. Urner und G. Kreis und bei der NZZ so fad und so schal, so lau und so schmal, weil sie nicht schöpfet aus dem lebendigen Wasser der Mündlichkeit. Dich aber will ich ausspucken aus meinem Maul, sprach der herr god zebaoth, weil Du mir Langweile erregest unter der Zunge, unter meiner armen lingua, hinter dem Gaumensegel wird es mir so trocken hierzuland, heilantonner, und will Dich verpfeien bis Dir Dein Hendli verdorret, hui bis es tör ist. Und vom gregorianischen Koran verstehen sie auch nichts & haben ein ganz lüggenhaftes Weltgebewde! Gib mir die verlorne Zounge wieder pange lingua gloriosum corporis mysterium, und jetzt, Körperlichkeit in die Sprache sus tätschts.»
Thomas von Aquin, 1983
Es gibt * Eine Antwort auf Äusserungen von Professor Edgar Bonjour in den LNN vom 16. Juli 1977. Bonjour erklärte u.a., mündlichen Quellen könne man weniger vertrauen als schriftlichen, Dokumente seien also in jedem Fall vertrauenswürdiger als Interviews, die ein Historiker mit den betroffenen Personen der Zeitgeschichte führt. Ausserdem müsse der Historiker, also er z.B., «untendenziös» sein und arbeiten. Bonjour: «Der Historiker kommt – unvoreingenommen – aufgrund der Fakten zu einer Wertung. Meienberg hat eine – vorgefasste – Meinung und unterlegt sie mit Interviews und solchen Fakten, die seine These stützen. Das nennt man Tendenz.» Andrerseits müsse es «einem jungen Filmautor durchaus erlaubt sein, eine Tendenz zu haben, eine selbständige, von der offiziellen Meinung unabhängige, kritische Auffassung der Zeitgeschichte zu vertreten. Ein tendenziöser Film braucht keineswegs ein schlechter Film zu sein.» (Film von R. Dindo und N. Meienberg über den Landesverräter Ernst S.) also noch ein liberales Bürgertum, oder wenigstens liberale Bürger. Die Erklärungen von Edgar Bonjour gegenüber der LNN bilden einen hübschen Kontrast zu den Verunglimpfungen, Unterstellungen und Anschwärzungen, die man im Zusammenhang mit Buch und Film über den Landesverräter Ernst S. seit zwei Jahren aus dem konservativ-verstockten Teil des Bürgertums schallen hört.
Man durfte von dorther wirklich viel Schrilles vernehmen: Professoren der Universität Bern beklagen sich beim Oberbürgermeister der Stadt Mannheim über die Auszeichnung, welche «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.» am Festival von Mannheim gekriegt hatte; es handle sich dabei, so schrieben die 18 Professoren, von denen 17 den Film gar nicht gesehen hatten, um «neomarxistische Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg». Und in der NZZ unterstellt uns am 7.7.77 ein gewisser Georg Kreis, wir hätten die historische Auseinandersetzung mit «unlauteren Mitteln» geführt (jeder Kaufmann, dem angelastet wird, er führe den Konkurrenzkampf mit «unlauteren Mitteln», würde notabene sofort einen Prozess anstrengen); ausserdem hätten wir unsere Interviewpartner «manipuliert» (eine Frechheit: alle von uns befragten Personen können das Gegenteil bestätigen) und stünden wir insgesamt unter «neolinkem Faschismusverdacht» und würden Elemente einer «totalitären Ideologie» verbreiten.
Der Kontrast zwischen dem aufgeklärten und dem verunklärten Flügel des Bürgertums ist enorm: Hier der suchende, offene Edgar Bonjour, der trotz (oder wegen?) seines hohen Alters immer noch forscht und weiterdenkt, mit einer gewissen Altersradikalität und ohne Rücksichten auf eine Karriere, die hinter ihm liegt, dort die sauertöpfisch-eifernden Ideologen der blockierten Bürgerlichkeit, heftige Streber, die trotz ihrer Jugend nicht mehr suchen müssen, sondern schon alles gefunden haben. Hier der Forscher, dort die Forschen. Hier die Gewissheit von Edgar Bonjour, dass die Schweiz eine unbewältigte Vergangenheit hat; dort die Behauptung, dass Vergangenheitsbewältigung nur ein Vorwand für Agitation sei.
Aber «dort» gibt es betreffs Vergangenheit und ihrer Bewältigung so viele Verrenkungen, Verstockungen und Verstopfungen, dass ein spezieller Artikel diesen Erscheinungen gewidmet werden muss. Hier nur ein paar Gedanken zur Geschichts-Konzeption von Edgar Bonjour. Das Schöne bei Bonjour liegt nämlich darin, dass man ihm widersprechen kann, ohne dass er beleidigt ist. Man kann debattieren mit ihm. Ein Liberaler, von denen die meisten heute ausgestorben sind.
Bonjour schreibt Geschichte aufgrund von schriftlichen Quellen, weil er die Geschichte der Aussenpolitik schreibt, und die kann man natürlich in klassischer Weise aufarbeiten: mit Dokumenten. Bonjour ist skeptisch gegenüber mündlichen Quellen: «Ein von mir dreimal – zum gleichen, wichtigen Gegenstand – befragter Staatsmann beispielsweise hat mir diesen Sachverhalt in drei verschiedenen Versionen geschildert.» Es ist normal, dass «Staatsmänner» ihre mündlichen Erklärungen taktisch dosieren. Ein Pilet-Golaz zum Beispiel, der die Angleichung der Schweiz ans Dritte Reich aktiv betrieb, hätte je nach politischen Umständen und Gesprächspartnern verschiedene Antworten gegeben. Nach dem Sieg der Alliierten über Hitler hatte er alles Interesse, seine Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland zu vertuschen. Wäre aber Hitler siegreich geblieben, hätte Pilet-Golaz seine Pionier-Rolle triumphierend hervorgehoben, und die dankbare Heimat hätte ihm Denkmäler errichtet, und nicht dem General Guisan das nette Reiterstandbild.
Mit schriftlichen Quellen hingegen kann nicht gemogelt werden, da steht auch nach 35 Jahren noch schwarz auf weiss, wenn auch leicht vergilbt, dass Pilet-Golaz zum Beispiel den deutschen Gesandten um Nachsicht gegenüber diesen «Bergbewohnern» bittet, welche die neuen Verhältnisse noch nicht ganz