Reportagen 1+2. Niklaus Meienberg

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Reportagen 1+2 - Niklaus Meienberg

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dazu kommen sollte. Wie mir mal ein Buchhändler sagte: Die haben schon einen Riecher gehabt, dass der Bloch nie so ganz linientreu war. Und die Bücher wurden unter der Theke verkauft. Aber, wenn er einen Vortrag irgendwo hielt, wie zum Beispiel zum 125. Todestag von Hegel, da war das Audimax in der Humboldt-Universität von Berlin überfüllt. Da kamen nicht nur Philosophen, sondern auch Mediziner und andere. Zuletzt hast du, glaub' ich, in der Anatomie gelesen?

      Ernst Bloch: Ja.

      Karola Bloch: Der Bloch verkörperte eben einen andern Sozialismus, nicht einen solchen, der Leitartikel von sich gibt. Davon hatten die Leute genug.

      Ernst Bloch: Wir haben jetzt genug Mühle gespielt, sagte ich damals. Wir sollten jetzt beginnen, Schach zu spielen. Mühle, wissen Sie, was das ist? So ein kleinbürgerliches Spiel.

      (Das Gespräch fand statt in der Blochschen Wohnung in Tübingen zur Feier des 90. Geburtstages von Ernst Bloch, im Sommer 1975.)

      Überwachen & Bestrafen (I)

      Es ist immer wieder zum Staunen, wie wenig die brillanten, penetranten, umstürzlerischen und genussreichen Schriften des berühmten Historikers* * Foucault möchte, wie er mir in einem Gespräch 1971 versicherte (TAM Nr. 12/1972), ausdrücklich nicht als Philosoph gelten, obwohl er in Frankreich meist als solcher betrachtet wird. Auf die Frage, worin die «Arbeit der Philosophen» bestehe, sagte er: «Ich glaube, dass die Philosophen nicht arbeiten» und «Die Philosophie ist eigentlich schon abgeschafft, sie ist nur noch eine kleine, vage Universitätsdisziplin, wo die Leute von der Totalität der Entität sprechen, von ‹écriture›, von der ‹materialité du signifiant› und so ähnlich.» Michel Foucault im deutschen Sprachraum durchgedrungen sind. Hängt's am Französischen, dessen Kenntnis mehr und mehr vom Englischen verdrängt wird? Hängt's an den deutschen Übersetzungen, die sehr wenig von Foucaults «Lust am Text» verstrahlen?** Da hat mir kürzlich ein bekannter Psychiater, den die Foucaultschen Untersuchungen über die Geschichte des Wahnsinns nicht kaltlassen dürften, kopfschüttelnd gesagt: «Foucault? Nie gehört. Kenne die Pariser Szene nicht.» Und ein notorischer Linguist, voll mit Roman Jakobson beschäftigt, heller Kopf, aber ziemlich auf den angelsächsischen Raum fixiert, hatte auch noch keine Zeile des französischen Professors und Agitators zu sich genommen. ** Foucaults kartesianische und zugleich barocke Sprache ist kaum übersetzbar, schon gar nicht von Übersetzern, die im Akkordsystem und schlecht bezahlt sich abrackern müssen. Die Irreführung des deutschen Lesers beginnt schon bei den Titeln. So wurde «Histoire de la Folie» im Suhrkamp Verlag publiziert als «Wahnsinn und Gesellschaft» – ein Titel, der nach Soziologie und nicht mehr nach Geschichte riecht wie das französische Original.Und ach, sogar ein Historiker, etabliert, renommiert und installiert auf einem Lehrstuhl für Geschichte an der Universität Zürich, ein Mann in den besten Forschungsjahren und scharf auf alle erklecklichen Neuerscheinungen seiner Domäne, hatte den Namen des grossen Kollegen F. weder in sein Bewusstsein noch in seine Kartei aufgenommen.

      Bei manchen Philosophen hierzulande gilt Michel Foucault als Historiker und deshalb als Unphilosoph, und bei manchen Historikern als Philosoph und deshalb als Unhistoriker. Man kann ihn nicht richtig in die bestehenden Schubladen versorgen, diesen Herrn Professor, der zwar anspruchsvolle und eindringliche Bücher schreibt und mit fünfundvierzig Jahren auf der Spitze der akademischen (und damit gesellschaftlichen) Pyramide angelangt ist, gibt er doch seit 1970 Vorlesungen am «Collège de France», wo einige der besten Köpfe aus ganz Frankreich und aus allen Fächern zentralisiert sind (Lévi-Strauss, Jacques Berque, Le Roy Ladurie usw.) – und der trotzdem auf die Strasse geht, agitiert, Flugblätter verteilt, von der Polizei abgeführt wird, am Rande oder jenseits der bürgerlichen Legalität funktioniert, der den Justizminister Pleven öffentlich einen Lügner genannt hat, weil er die Zustände in den Gefängnissen verschleierte, dieser Foucault, der höhnisch und wütend auf seinen Staatspräsidenten losging: Pompidou habe eine «guillotine électorale», eine Wahlguillotine, betätigt, als er Buffet und Bontemps* * Buffet und Bontemps wurden nach der Gefängnisrevolte und dem Geiselmord von Clairvaux zum Tode verurteilt. Präsident Pompidou lehnte die Begnadigung ab. Dazu das Buch von Buffets Anwalt Thierry Lévy: «L'animal judiciaire». aufs Schafott schickte, er habe sich Wählerstimmen sichern wollen, indem er den Blutdurst der aufgeputschten Kleinbürger stillte. (Wer kann sich einen solchen Professor bei uns vorstellen?)

      Dabei wird man, vor allem seit dem Erscheinen von «Surveiller et punir», aber auch schon seit «Histoire de la folie» und «Pierre Rivière» ohne Übertreibung sagen dürfen: Das Gefängnissystem in den industrialisierten Gesellschaften, die Mechanismen der subtilen oder grobschlächtigen Dressur des Menschen begreift man so wenig, wenn man Foucault nicht liest, wie man den Klassenkampf kaum versteht, wenn man Marx nicht studiert, oder wie man vom Unterbewusstsein keine rechte Ahnung hat, wenn man Freud ignoriert. Es gibt solche Bücher, um die man gar nicht herumkommt, Brenngläser, welche die Strahlen einer Epoche bündeln und im morschen Gebälk der Humanwissenschaften (wie sagt man «sciences humaines» auf deutsch?) zündeln. Jeder Filmer, der Gefängnisse filmt, jeder Journalist, Künstler, Gefangene, Politiker, der mit Käfigen und verwandten Institutionen und mit der Käfighaltung von Menschen zu tun hat und die Zerstörung aller Käfige und käfigähnlichen Einrichtungen wünscht, wird sich im Werkzeugkasten von Michel Foucault seine Instrumente holen müssen.

      Das ist jetzt ohne weiteres möglich, denn sein letztes Buch ist äusserst leserlich geraten, nicht wie das neunmalkluge «Les mots et les choses» oder das hochgestochene «Naissance de la clinique», welche (für mich) in einem undurchdringlichen Stil geschrieben und ohne einen Diktionär des Strukturalismus nicht zu entziffern waren. Damit ist nicht gesagt, dass diese hermetischen Bücher keinen Sinn abgäben, doch waren sie so grausam hochkonzentriert, dass nur noch die Eingeweihten drauskamen. Übrigens will Foucault sich heute nicht mehr «Strukturalist» nennen lassen, er hat etwas gegen Etiketten. Wie Sartre, der auch kein Existentialist mehr sein wollte, als dieser Begriff sich abgewetzt hatte.

      «Surveiller et punir» beginnt mit Bildern. Zwanzig Bildtafeln aus ganz verschiedenen Bereichen, manches scheint weit hergeholt. Es werden gezeigt: eine Anleitung für militärische Handgriffe aus dem «klassischen Zeitalter», anno 1666. Grundrisse einer Kaserne, 1719. Anleitungen für die korrekte Hand- und Körperhaltung beim Schreiben, 1760. Grundrisse von Spitälern. Anleitung für die korrekte Körperhaltung in den Schulen, 1818. Grundriss der Menagerie von Versailles. Zahlreiche Grundrisse, Aufrisse, Ansichten, Flugaufnahmen von Gefängnissen (seltsam verblüffende Ähnlichkeit zwischen der Struktur einer Menagerie und der Gefängnisstruktur!). Abbildung eines Erziehungsheims, etwa 1840, wo die Zöglinge rechts sich eben in Reih und Glied aufgestellt haben, um auf ein Zeichen des Erziehers hin sich militärisch-sträflingsmässig-spitalhaft-schulisch-fabrikartig, auf eine genau regulierte, normierte, kodifizierte Weise, in die Hängematten zu schwingen, während die Zöglinge links aussen schon alle auf Befehl schlafen.

      Damit sind wir mittendrin im Foucaultschen Generalthema, in der «grossen Einschliessung», «le grand renfermement». Die Geburt des Gefängniswesens aus dem Geist der Industrie hatte Foucault schon in seiner «Geschichte des Wahnsinns» trefflich-unübertrefflich analysiert, und in «Surveiller et punir» bohrt er weiter im gleichen Loch. Gefängnisse und gefängnishafte Einrichtungen werden von ihm als Resultat und zugleich als Bedingung der Frühindustrialisierung beschrieben. Während im Mittelalter die Bettler, Kranken, Vagabunden und Wahnsinnigen frei in der Gesellschaft zirkulierten, werden diese nichtproduktiven Elemente Ende 16./Anfang 17. Jahrhundert, bei Beginn des «klassischen Zeitalters», alle zusammen rübis und stübis eingeschlossen in Häusern, welche man je nach der Gegend «hôpital général» (z.B. die «Salpêtrière» in Paris), «Zuchthaus» oder «working house» nannte.

      Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstehen spezialisierte Einrichtungen; im Namen der angewandten Aufklärung trennt man jetzt die Wahnsinnigen, die Bettler, Kriminellen, Kranken voneinander und interniert sie gesondert in Absonderungshäusern: in Asylen, Armenhäusern, Gefängnissen, Spitälern. Nur noch verbrecherische Leute werden jetzt in eigentlichen Gefängnissen versorgt, aber zugleich

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