Reportagen 1+2. Niklaus Meienberg

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Reportagen 1+2 - Niklaus Meienberg

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Abstraktes geworden. In ähnlicher Weise wird auch mit weniger gefährlichen Delinquenten verfahren: ihre Körper werden heute abstrakt durch ein Reglement verwaltet, in aller Heimlichkeit in Zellen eingeschlossen, abgesondert vom Volk, und nicht mehr öffentlich-konkret an den Pranger gestellt wie im Mittelalter. Der «éclat des supplices», die ins Auge springende Bestrafung des Mittelalters, wird ersetzt von totalen und nüchternen Einrichtungen der Neuzeit, «des institutions complètes et austères», wie eine Kapitelüberschrift lautet.

      Surveiller et punir, überwachen und bestrafen, möglichst viel überwachen, damit möglichst wenig bestraft werden muss, Ökonomie der Mittel in der politischen Vereinnahmung der Körper, im «investissement politique des corps». Die «Ecole Militaire» in Paris, diese pädagogische Maschine zur Erziehung der Offiziersaspiranten, war so strukturiert:

      «Es mussten kräftige Körper, gehorsame Militärmenschen, kompetente Offiziere produziert und dabei (in dieser Männergesellschaft) die Homosexualität und das Laster vermieden werden. Also ein vierfacher Grund, um abgedichtete Trennwände zwischen den Individuen zu errichten, aber auch ein Grund, zwecks Überwachung einen kontinuierlichen Einblick in die Zellen zu garantieren.» (Foucault nennt das an einer anderen Stelle den «Panoptismus»: die Zöglinge, Häftlinge, Fürsorgeobjekte sind voneinander isoliert, können miteinander nicht kommunizieren, aber die Aufsichtsperson hat von einem zentralen Punkt aus die Einsicht in alle Zellen. Das Aufsichtssubjekt weiss alles über die Fürsorgeobjekte, hat ein Machtwissen, «pouvoir-savoir», während die Objekte nichts voneinander und vom Subjekt wissen oder möglichst wenig.) «Das Gebäude der Militärschule war selbst ein Aufsichtsapparat, die Zimmer waren entlang einem Korridor angeordnet wie eine Serie von kleinen Zellen; in regelmässigen Abständen war ein Offizierslogis eingebaut, und zwar so, dass immer zehn Offiziersaspiranten je einen Offizier links und rechts von sich hatten. Die Aspiranten waren in den Zellen die ganze Nacht eingeschlossen. Die Türen der Zellen waren verglast. (…) Man hatte Latrinen eingerichtet, mit halben Türen, damit die Aufsichtsperson die Beine und die Köpfe der Aspiranten sehen konnte, doch die seitlichen Trennwände waren so hoch, dass die Latrinenbenützer einander nicht sahen.»

      Ähnlich gebaut war die berühmte landwirtschaftliche Schule (Besserungsanstalt) von Mettray, wo «kräftige und tüchtige» Landwirte ausgebildet wurden. Die Vorgesetzten in dieser Anstalt waren ein bisschen Richter, Professoren, Vorarbeiter, Unteroffiziere, Eltern in einer Person. Es waren Techniker des Betragens, Ingenieure der Seele, Orthopädisten der Individualität. «Beim Eintritt in die Anstalt unterwirft man den Zögling einer Art von Verhör, um über sein Herkommen, das familiäre Milieu, sein Vergehen, das ihn in die Anstalt gebracht hat, Klarheit zu gewinnen. Diese Auskünfte werden auf einer Tafel notiert, wo man sukzessive alles aufschreibt, was das Individuum betrifft, wie er sich in der Anstalt aufführt.» Die Anstalt erzielte befriedigende Resultate: Die Zöglinge begannen ihre (unsichtbaren) Ketten zu lieben, und einer, der im Sterben lag, soll kurz vor dem letzten Schnauf gesagt haben: «Wie schade, dass ich die Anstalt so früh verlassen muss.» Foucault nennt das den «Tod des ersten heiligen Sträflings». 1843, als «das revolutionäre Fieber die Einbildungskraft überall leidenschaftlich erregte, als sogar die Anstalten von Angers, von La Flèche, von Alfort sich auflehnten, waren die Zöglinge von Mettray noch ruhiger als in normalen Zeiten». Der Apparat hatte sie vollkommen in den Griff bekommen, man kannte ihre Seelen, erforschte ihre Regungen und konnte dank diesem Macht-Wissen («pouvoir-savoir») vorbeugen. Foucault ist eben jetzt damit beschäftigt, das «pouvoir-savoir» der psychiatrischen Expertisen und ihre Bedeutung im Strafprozess zu untersuchen, er wird bald entsprechende Dossiers veröffentlichen, vielleicht werde ich ihm die Expertise des Psychiaters Dr. Hans-Oscar Pfister zeigen, bis vor kurzem Stadtarzt und Aushebungsarzt von Zürich, der den Landesverräter Ernst S. im Gefängnis untersucht hat, welche Untersuchung mit der Zerknirschung und dem Todeswunsch des Delinquenten S. endete.

      Das Gefängnissystem als grosses Projekt der sozialen Orthopädie. Gefängnisse waren nicht einfach «als Depot für Kriminelle» geplant, sondern man glaubte Anfang des 19. Jahrhunderts ehrlich und wirklich an eine Besserung und deshalb neue ökonomische Verwendbarkeit der Delinquenten. Und doch war der Misserfolg «fast so alt wie das Projekt», sagt Foucault. «Man konstatierte seit 1320, dass die Gefängnisse nur neue Kriminelle produzieren, anstatt die alten zu korrigieren, oder dass sie die Kriminellen nur noch weiter kriminalisierten. Und da hat, wie immer in den Machtmechanismen, eine strategische Verwendung dieser ursprünglich als negativ empfundenen Tatsache stattgefunden. Man hat gemerkt, dass die Kriminellen nützlich sein können, im ökonomischen wie im politischen Bereich. Zum Beispiel kann man dank ihnen Profit machen mit der Ausbeutung der sexuellen Lust: Jetzt wird, im 19. Jahrhundert, das grosse Gebäude der Prostitution errichtet, und das war nur möglich dank den Kriminellen (Zuhälter usw.), welche ein Scharnier wurden zwischen der teuren täglichen sexuellen Lust und ihrer Kapitalisation.» (In Marseille z.B. spielt das von der Polizei genau kontrollierte korsische Gaunermilieu eine wichtige politökonomische Rolle: als Detailhändler von Heroin, als Zuhälter und als Schlägertrupps für die Regierungspartei.) «Wie jedermann weiss, hat Napoleon die Macht ergriffen dank einer Gruppe von Kriminellen. (Auch Giscard hat seine Wahlkampagne teilweise mit Kriminellen bestritten.) Und wenn man sieht, wie sehr die Arbeiter die Kriminellen immer gehasst haben, dann begreift man, dass diese gegen die Arbeiter eingesetzt wurden, in den politischen und sozialen Kämpfen, als Streikbrecher, Schlägerbanden, Spitzel usw. Das Gefängnis wurde zum grossen Rekrutierungsinstrument. Das Gefängnis professionalisierte die Kriminellen. Wenn einer entlassen wurde, war er infam und geächtet, er konnte nichts anderes tun als wieder delinquieren, und das System machte notwendigerweise einen Polizisten, einen Zuhälter oder einen Spitzel aus ihm. Anstatt wie im 18. Jahrhundert, wo nomadisierende Räuberbanden mit oft grosser Wildheit über Land zogen, hatte man jetzt dieses ganz abgeschlossene Delinquentenmilieu, von Polizeispitzeln durchsetzt, ein wesentlich städtisches Milieu.» Zur gleichen Zeit beginnen die Kriminalromane zu florieren und die Ausschlachtung von «Unglücksfällen und Verbrechen»; die Untaten müssen dem Volk möglichst drastisch vor Augen geführt werden, um die arbeitsamen Leute ganz scharf vom Delinquentenmilieu abzugrenzen und um den Armen zu erklären, dass die Verbrecher auch für sie und nicht nur für die Reichen gefährlich sind.

      Des Philosophen Grabesstimme

      Zwei Männer schreiben eine Biographie. Der berühmte Philosoph und Papst des französischen Marxismus und Mörder seiner Frau, Louis Althusser, seine eigene; und der Historiker Moulier-Boutang die von Louis Althusser. Beide sind jetzt erschienen. Dabei werden uns zwei verschiedene Lebensläufe vor Augen geführt, auch wenn sie streckenweise deckungsgleich sind. Beiden entsteigt man nach der Lektüre wie einem Säurebad, also ziemlich aufgelöst. Die lebenslange Verzweiflung und allgegenwärtige Düsternis des Louis Althusser «lassen Sartres ‹Ekel› [la nausée] wie einen Pennälerwitz und ‹Die Pest› von Albert Camus wie eine harmlose Epidemie erscheinen» (Moulier-Boutang).

      Althusser? Bisher als Verfasser von ebenso knochentrockenen wie scharfsinnigen Traktaten, als langjähriger Professor des Elitetreib- und Triebhauses Ecole Normale Supérieure und Mitglied der Kommunistischen Partei bekannt. Elegant hat er zwar immer geschrieben, ausgefeilt und präzis, ein schmales Werk («Pour Marx», «Lire le Capital» usw.), sein Einfluss in Frankreich war eminent, er hat die philosophische Debatte in Sachen Reformkommunismus oder Eurokommunismus dominiert. Er hat sich gegen die Instrumentalisierung der Philosophie gewehrt, gegen das «enorme theoretische Vakuum der französischen Marxisten, welche, meist kleinbürgerlichen Ursprungs, zur Partei gestossen sind und, weil sie nicht Proletarier waren, ihre imaginäre Schuld abzutragen glaubten, indem sie einem reinen Aktivismus verfielen» («Pour Marx»). Dass er aber als Person existierte, 1918–1990, dass er litt, verzweifelte, etwa die Hälfte seines Lebens in psychiatrischer Behandlung und/oder Irrenhäusern verbrachte, ständig, schon als Kind, von Selbstmordgedanken geplagt war, hat er nie beschrieben: bis er jetzt, als Toter, seine Autobiographie publizieren liess. Sie wirft den Leser um. Er steht wieder auf, und Moulier-Boutang boxt ihn nochmals um. So war das also! Er hat die Rolle als Guru mit seiner Selbstzerstörung erkauft. Althusser, manisch-depressiv, als Schriftsteller grossartig, tot und sehr lebendig, und man sieht, wie sein philosophisch-marxistisches Über-Ich,

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