Reportagen 1+2. Niklaus Meienberg
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So wirkt die oberste Stufe aller Einschliessungen, das Gefängnis, als regulativ-organisatorisches Prinzip auf alle unteren Stufen zurück, und so ist das Gefängnis nur die letzte Sprosse einer Leiter, nur ein Glied aus der Serie verwandter Institutionen und also nicht qualitativ verschieden von Kasernen, Heimen, Asylen, Schulen. Gefängnis als verschärfte Schule, Schule als gemildertes Gefängnis. Die Schraube kann beliebig angezogen werden, fast übergangslos mündet eine Institution in die andere, je nach Fügsamkeit oder Widerborstigkeit des zu dressierenden Erziehungsobjekts. (Wer je in einem Internat lebte, hat das besonders deutlich gespürt.) Hier liegt das Verdienst von Michel Foucault: er hat das Gefängnis historisch begriffen, nicht nur punktuell als einen isolierten Skandal, den man mit gutem Willen und ein bisschen Reformeifer abschaffen könnte, und schon ist die Gesellschaft wieder in Ordnung. Foucault denkt diachron durch fünf Jahrhunderte, und zugleich denkt er synchron im Kontext der Institutionen. Deshalb ist er auch kein oberflächlicher Reformist, der ein paar kosmetische Verschönerungen am Gefängniswesen anbringen möchte. Denn was nützt es, wenn die Gefängnisse in ihrer heutigen, relativ brutalen Form verschwänden und trotzdem in andern Institutionen etwas subtilere, aber um so perfidere Formen der Einschliessung und des «esprit carcéral» ins Kraut schiessen? Diese Überlegung hindert ihn übrigens nicht daran, sich heftig im Kampf gegen das französische Gefängnissystem zu engagieren, er arbeitet und agitiert in der «Groupe d'information sur les prisons» (gip), welche Bewegung vor allem darauf abzielt, den Gefangenen wieder zu jener Sprache zu verhelfen, die es ihnen im Gefängnis verschlagen hat. Die Sprache der Gefangenen aber heisst Revolte, bekanntlich. Debout, les damnés de la terre! Foucault will nicht die Interessen der Gefangenen vertreten, aber er freut sich, wenn die Gefangenen ihre eigenen Interessen vertreten.* * Foucault: «Was die Intellektuellen unter dem Druck der jüngsten Ereignisse entdeckt haben, ist dies, dass die Massen sie gar nicht brauchen, um verstehen zu können; sie haben ein vollkommenes, klares und viel besseres Wissen als die Intellektuellen; und sie können es sehr gut aussprechen. Aber es gibt ein Machtsystem, das ihr Sprechen und ihr Wissen blockiert, verbietet und schwächt. Ein Machtsystem, das nicht nur in den höheren Zensurinstanzen besteht, sondern das ganze Netz der Gesellschaft sehr tief und subtil durchdringt. Die Intellektuellen sind selbst Teil dieses Machtsystems; die Vorstellung, dass sie Agenten des ‹Bewusstseins› und des Diskurses sind, gehört zu diesem System. Heute kommt es dem Intellektuellen aber nicht mehr zu, sich an die Spitze oder an die Seite aller zu stellen, um deren stumme Wahrheit auszusprechen. Vielmehr hat er dort gegen die Macht zu kämpfen, wo er gleichzeitig deren Objekt und deren Instrument ist: in der Ordnung des ‹Wissens›, des ‹Bewusstseins›, des ‹Diskurses›.» Das geschieht in Frankreich (und vielleicht auch anderswo) immer dann, wenn die Gefangenen ihre Wärter einschliessen und auf die Dächer steigen. Dann gibt es jeweils Reformen, die es vorher trotz allen Eingaben, Petitionen und Resolutionen nicht gegeben hat.
Was macht die Lektüre von «Surveiller et punir» so spannend? Dieser Stil, der gefangennimmt und zugleich befreit, bald warm und bald kalt, präzis und expressiv? Das ist Literatur, Wissenschaft, Pamphlet, Vergangenheitsreportage, Historiographie in einem. Der Stil kommt vom Inhalt, und den hat der Historiker Foucault zu einem guten Teil aus Dokumenten oder fast verschollenen Büchern gepflückt: Archivarbeit bringt sinnliche Sprache und hohe Anschaulichkeit, wenn sie einer praktiziert, der den lebendigen Kontakt mit Gefangenen hat. Der Klappentext, von Foucault geschrieben, lautet:
«Vielleicht schämen wir uns heute unserer Gefängnisse. Das 19. Jahrhundert war im Gegenteil stolz auf diese Festungen, die es am Rand und manchmal im Herzen der Städte erbaute. Es begeisterte sich an dieser neuen Milde, welche die Schafotte ersetzte. Das 19. Jahrhundert war beglückt, weil jetzt nicht mehr die Körper bestraft, sondern die Seelen korrigiert wurden. Diese Mauern, diese Riegel, diese Zellen versinnbildlichen ein Unternehmen der sozialen Orthopädie.
Wer stiehlt, wird eingekerkert; wer vergewaltigt, wird eingekerkert; wer tötet, ebenfalls. Woher kommt diese seltsame Praxis und das eigenartige Projekt: Einschliessung zwecks Erziehung, welches die Strafgesetzbücher der Neuzeit in sich tragen? Ein altes Überbleibsel der mittelalterlichen Verliesse? Eher eine neue Technologie: Die Vervollkommnung, vom 16. bis ins 19. Jahrhundert, eines ganzen Arsenals von Prozeduren, mit denen man die Individuen überwachen, kontrollieren, messen, dressieren, sie zugleich gefügig und nützlich machen kann.
Überwachung, Übungen, Manöver, Noten, Ranglisten, Klassierungen, Examen, Registrierungen – eine ganz bestimmte Art der körperlichen Unterwerfung, eine Beherrschung der menschlichen Vielfältigkeiten und eine Manipulation ihrer Kräfte hat sich im Laufe des klassischen Zeitalters in den Spitälern, in der Armee, in den Schulen, Internaten und Manufakturen entwickelt: die Disziplin. Das 18. Jahrhundert hat ohne Zweifel die Freiheiten erfunden; aber es hat ihnen ein tiefes und solides Fundament gegeben – die disziplinäre Gesellschaft, zu der wir immer noch gehören. Das Gefängnis muss man wieder innerhalb der Entstehung dieser Überwachungsgesellschaft sehen. (…)»
Eine «ganz bestimmte Art der körperlichen Unterwerfung»? Das Kennzeichen der neuzeitlichen Zucht, sagt Foucault, besteht in der Unterwerfung der Körper, in der körperlichen Dressur, ohne dass die Körper von den Zuchtmeistern berührt oder gar beschädigt werden. Die Körper müssen ganz bestimmte Verrichtungen lernen, um rentabel zu sein, und weil der Körper ein Produktionsmittel geworden ist, wird er jetzt nicht mehr gezwackt und verstümmelt wie auf den Folterstätten des Mittelalters, sondern abgerichtet und dressiert. Via körperliche Dressur wird eine Fügsamkeit der Seele bewirkt, und die gefügige Seele wiederum macht auf die Länge sogar jede körperliche Dressur überflüssig.
Die Todesstrafe an sich betrachtet Foucault in diesem Zusammenhang als atypisch in der modernen Gesellschaft, ihre zivilisierte Form jedoch als typisch: während bis etwa zur Französischen Revolution die Hinrichtung oft eine Steigerung der vorgängigen Folterung war und den Höhepunkt der körperlichen Vernichtung darstellte (welche etappenweise vor sich ging), worauf dann eventuell noch die Verbrennung des toten Delinquenten und die Zerstreuung seiner Asche in die vier Winde folgte, ist die Todesstrafe seit dem 19. Jahrhundert in den industrialisierten Gesellschaften ein schneller, relativ schmerzloser Akt geworden: der Körper des Exekutanden wird bis zum letzten Moment und sofort nach dem letzten Moment respektiert, und die Exekution selbst ist ein möglichst kurzer Schnitt (wie bei der Guillotine) oder ein rascher Sturz (wie beim modernen Galgen). Der Körper des 1757 hingerichteten Mörders Damiens hingegen wurde noch langsam, festlich, öffentlich und grausam getötet: vier Pferde, eines pro Bein und Arm, rissen ihn auseinander, bis er zerrissen war, die Henkersknechte mussten mit Beilen und Messern noch etwas nachhelfen und die Gliedmassen anschneiden, welche nicht ohne weiteres nachgeben wollten – Foucault beschreibt's auf beinahe lustvolle Weise, d.h., er zitiert einen Augenzeugenbericht. Der Körper des Untertans gehörte im Ancien régime seinem König, und dieser konnte darüber verfügen, öffentlich: deshalb die eklatanten Hinrichtungsaufführungen vor dem ganzen Volk, ein blutiges Fest, welches die Gesellschaft für den ihr zugefügten Schaden entschädigte. Foucault nennt das «l'éclat des supplices», Glanz der Hinrichtungen.
Moderne Hinrichtungen passieren hingegen in aller Heimlichkeit, zur Stunde des Milchmanns in der Umfriedung von Gefängnissen oder abgelegenen Wäldern, im Beisein eines genau reglementierten und hierarchisierten Personenkreises, und gar nicht festlich, sondern amtlich-korrekt-reglementär. Man will dem Delinquenten