Die Gärten der Medusa. Dieter Bachmann

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Die Gärten der Medusa - Dieter Bachmann

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heruntergekommenen Käfigen, Gehegen, Pavillons, Volieren standen, verloren und als ob sie frieren würden, vor allem Ziegen, Schafe, Steinböcke, die Schraubenziege, das Blauschaf, das Steppenwildschaf, der westkaukasische Steinbock. Ein riesiger alter Esel kaute an einer Futterkrippe, da standen Wildschweine exotischer Art. Dik-Dik, Känguru und Emu, Nandu und Lama, Gazellen und das Gau, eine große Büffelart, kleinere Büffel und jede Menge Vögel, eingesperrte und frei fliegende, Enten, Kraniche, zwischen denen man im Käfig spazieren konnte, manche Nachtvögel wie Eule und Uhu, von denen nicht eine Feder zu sehen war, und in einer dunklen Voliere die unvermeidlichen Wellensittiche, deren grelles Zwitschern die Leblosigkeit dieses zweitältesten Tiergartens der Welt akzentuierte. Abandonné, dem Verfall überlassen, dem Hinsinken. Du schaust in das Auge des Bisons, und dein Blick fällt in einen Abgrund.

      Alle Tierparks, die Wild kannte, hatten ihre eigene Trauer. In dieser Ménagerie war von der Trauer nur die Trostlosigkeit übrig geblieben. Das Büchlein in Wilds Hand nannte den Grund, eher beiläufig: der Schwerpunkt des Zoos war längst umgezogen, déménagé, verlegt worden nach Vincennes, wo die Tiere in einem großzügigeren Umfeld leben dürfen. Das Tier ist nun kein Spektakel mehr, das man ausstellt, es ist nun Ambassadeur de la biodiversité. Und es lebt «in einer natürlichen Umwelt, in der sein Wohlergehen an erster Stelle steht». «Ainsi», schrieb Wilds Guide, «le zoo s’inscrit dans un dispositif de sensibilisation à la conservation de la nature.»

      Endlich fand er zu den Toiletten, gleich hinter dem Käfig mit den Sittichen, untergebracht in einem kleinen, am Giebel eingebrochenen Gebäude. Die Frauenseite war mit einem Verschlag versperrt. Wild, es eilte langsam, traf in den Pissoirs der Männerabteilung eine Mutter mit zwei kleinen Mädchen an, die sich vor den Urinoirs, die viel zu hoch waren, mit den Kindern mühte.

      Wild zog sich zurück, schlug den Mantelkragen höher, drehte eine Runde, kam wieder, als die Mutter mit ihrem Kinderwagen hinter Buchsbaum verschwand.

      Auf einem der nierenförmig geschwungenen Wege kam er zum Raubtierhaus oder vielmehr zu den leeren Käfigen an dessen Außenseite. In einem der Käfige, Eisenbalustrade, Metallstäbe, zusätzliches Drahtgitter, lag hoch auf seinen grünmoosigen Kunstfelsen ein Schneeleopard. Fast hätte Wild ihn übersehen, während der mit einem Auge bewegungslos auf ihn herunterschaute.

      Der Eingang zum Raubtierhaus befand sich auf der Rückseite des Gebäudes aus den Dreißigerjahren, der Architekt war auf einer Tafel verewigt, «René Berger, 1935–1937», wie an vielen Häusern der Name des Architekten an der Fassade steht, signierte Architektur. Ein paar Stufen führten ins Innere. Eine gelb erleuchtete Arena tat sich auf, ein großer Raum. Auf einer ausladenden Bank in der Mitte fütterte vor den Käfigen eine Mutter ihr Kind.

      Es gab keine Besucher vor den zweigeschossigen Boxen, in denen Stroh lag, die Käfige, bis auf einen einzigen, waren leer. In dem Abteil, das bewohnt war, lag ein Jaguar über einen Baumstrunk ausgestreckt. Sein langer Schwanz hing leblos herab, und auf der Flanke zeigte er eine große kahle Stelle. Er sei jüngst operiert worden, stand auf einem Schild, vielleicht schlief das Tier immer noch eine gewaltige Narkose aus.

      Es war warm und ruhig in dem großen, leeren Raum. Wild staunte in die leeren Käfige. Die Wärme, der schöne Raum, seine Großzügigkeit, das gäbe einen schönen Ort zum Wohnen ab, Alterswohnungen vielleicht? Der einsame Jaguar hätte gewiss nichts einzuwenden gegen ein wenig Gesellschaft, und wenn diese netten französischen Familien mit ihren kleinen verwöhnten Kindern ihm am Sonntag einen Besuch abstatteten, konnte es nichts schaden, wenn sie sich dabei auch ein wenig die Alten besahen.

      Vor dem Kassenhäuschen der Ménagerie heulten die Turbobläser der Gärtner, die ein bisschen Laub unter den Platanen zusammentrieben, und das Schreien der Sägen, mit denen sie daran waren, die Platanen der Allee, dieser zu einer Armee angetretenen Baumreihe, zu trimmen und ihnen einen militärischen Schnitt zu geben. Schnurgerade folgte der Blick der Baumreihe bis zu ihrem Ende, nach den geometrischen Rabatten und symmetrisch aufragenden Taxus-Türmen ein weiteres Exempel der klassischen französischen Gartenkunst – und merkwürdig unpassend in einem Botanischen Garten, in dem einer das Wuchern freier Natur erwarten durfte. Die Zone, in der das Schneiden und Trimmen tobte, war durch rot-weiße Bänder abgesperrt. Ein Traktor mit aufgepflanztem Arm, gerecktem Ausleger, an dessen Ende fünf Sägeblätter rotierten, schob sich langsam an der Baumreihe entlang und fräste in den Kronen die Ästchen ab, mehrere Turbobläser wehten mit Gedröhn ein paar Reste zusammen, riesiger Aufwand, wenig Effekt.

      Wo sind die Gärtner geblieben, fragte sich Wild, die Gärtner in der grünen Schürze oder dem blauen Overall mit dem Rechen in der Hand, wo sind sie, all die Straßenfeger und Hauswarte mit dem Reisbesen, wo bleibt das wunderbare Geräusch eines in der Stille Laub rechenden Menschen? Wo das Hin und Her einer langsam durch einen Ast dringenden Handsäge, wo das Schnappen der großen Heckenschere und wo das Bild jener an die Bäume gelehnten Leitern, auf denen geschickte Arbeiter hoch oben in den Kronen die Bäume fachmännisch beschneiden? «Achtung!» der Ruf, und der große Ast fällt krachend hernieder … Die Würde gut gemachter Arbeit hatte sich in Lärm aufgelöst, in das robotermäßige Hantieren gelb vermummter Männer, ineffizient, grob und unangemessen.

      Pelouse interdite.

      Pas de flash.

      Fermé au public.

      Eau non potable.

      Stationnement réservé au directeur.

      Chantier interdit au public.

      Amphithéâtre fermé.

      A titre provisoire le jardin des plantes vous ouvre cette pelouse.

      Sortie.

      Wild hatte den Mantelkragen gerafft, als er durch die Doppeltür hinaus in den Wind getreten war. Hinter den vor kurzem renovierten mächtigen Gewächshäusern aus den Dreißigerjahren begann eine Zone mit älteren Verwaltungs- und Servicegebäuden, die offensichtlich am Zerfallen waren. Das Restaurant «La Baleine» wirkte vernachlässigt und vernutzt, die älteren Gebäude dahinter aber zerfielen schon sichtlich; Putz blätterte, Läden hingen schief in den Angeln. Einige schienen nicht mehr benutzt.

      Wild wunderte sich über so viel Verwahrlosung. Den Niedergang dieser schönen Gebäude in einem öffentlichen Park in einer der reichsten Städte der Welt. Verschwendung von so viel bewohnbarem Raum in bester Lage. Hinter dem rückseitigen Parkausgang des Jardin des Plantes kam gleich das Cinquième, das belebte Stadtviertel mit dem Panthéon als Zentrum. Hier hätte er wohnen mögen, dachte Wild. Die Seine war ja auch nur ein paar Schritte entfernt.

      Borbakis fiel ihm ein, die Zürcher Gespräche. Des Schwätzers Plan, eine Art Bibliothèque Complète de la Présence Littéraire d’Immigration à Paris einzurichten. Eine der vielen Ideen, die im Nichts verlaufen waren, wie die Menschheitsgeschichte überhaupt nicht in erster Linie die Summe ihrer Erfindungen, sondern vielmehr ihrer aufgegebenen, verratenen, vernachlässigten, gescheiterten Projekte ist. Wäre nicht hier, genau hier, in diesen aus einer anderen Zeit herübergrüßenden alten Häusern Platz für ein solches Institut gewesen, für eine solche Bibliothek?

      Wild setzte sich auf die kreisförmige Ummauerung, die einen uralten Baum umgab. Es war die Platane, die Buffon 1785 gepflanzt hatte, vier Jahre vor der Revolution. Comte Georges Louis Marie Leclerc de Buffon, von 1739 bis zu seinem Tod im Jahr 1788 hier Directeur, 49 Jahre lang, während derer er den Jardin Royale des Plantes prägte und ausbaute, mit Gebäuden für Lehre und Forschung versah, die Fläche des Gartens verdoppelte und bis an die Seine erweiterte, neue Gewächshäuser errichten ließ.

      Riesig stieg die Platane hinter Wild in die Höhe, mächtig, kahl. Einen Solitaire nannte man ein solches einzelnes Exemplar von Baum wohl. Und welchen Ahnungen spürte er nach,

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