Die Gärten der Medusa. Dieter Bachmann

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Die Gärten der Medusa - Dieter Bachmann

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schneidet und damit dem Lärm, der Vulgarität des Lebenskampfs entreißt?

      Hinter dem flachen Grundstück, auf dem die alten Häuser standen, erhob sich ein Hügel, an dessen Seite ein bequemer Weg in die Höhe führte, an einer gewaltigen Libanonzeder vorbei, einem Monument, für welches das Wort Pflanze nicht mehr zu genügen schien, an deren Fuß ein Mädchen auf einer Bank saß, während ein junger Japaner, offenbar ihr Freund, ihr merkwürdige Tanzschritte vorführte, so etwas wie den Moonwalk von Michael Jackson. Von Wild nahmen sie keine Notiz.

      Ganz offenbar war hier eine Art «englischer» Garten gegen die Geometrie des zentralen Parks gesetzt worden, ein eher rührendes Unterfangen, war doch der Platz für eine nach englischem Muster großzügig gestaltete Natur-in-der-Natur viel zu beengt. Immerhin standen hier außer jener Zeder, die Jussieu 1734 gepflanzt hatte, die Buffon-Platane und, höher am aufsteigenden Hügel, der älteste Baum der Anlage, der kretische Ahorn, Acer sempervirens, den Tournefort 1702 gesetzt hatte.

      Von unten sah man einen kleinen, schlanken Pavillon auf der Kuppel des Hügels, der wurde natürlich sogleich Wilds Ziel. Um dorthin zu kommen, musste man die aufwärts führende Spirale benutzen und den Tumulus mehrfach umrunden, einen stumpfen Kegel, der vollständig und dicht mit einer Taxushecke bepflanzt war. Ein Labyrinth sollte das sein, in Wirklichkeit eine Schnecke, die sich, enger werdend, zu dem Pavillon hinaufzog. Der Weg führte zwischen den Hecken mählich in die Höhe, zu langsam offenbar für jene, die quer zum Hang und unter den untersten Ästen des Gestrüpps hindurch sich eine Art Tunnel und Schlupflöcher geschaffen hatten, durch die sie die Kuppe auf direkterem Weg, wenn auch gebückt oder halb kriechend erreichten. Wild hätte eine solche Abkürzung niemals benutzt, auch nicht in jüngeren Jahren. Dass man aufrecht gehen sollte, war einmal mehr als eine gesundheitliche Anweisung gewesen. Und hatte nicht gerade jene französische Revolution, auf die dieser Park zurückging, den Bückling überwunden?

      Zum Pavillon ging es noch ein paar Steintritte hinauf. Dann stand Wild in einem kleinen Rund, die Aussicht bescheiden: die Dächer der nächsten Straße, Bäume, er war nun auf der Höhe der Krone der riesigen Schirmpinie; das Palais des Jardin; die großen Gewächshäuser und ein Teil der Plaine des perspectives. Offenbar ging es hier nicht um Aussicht. Der Pavillon, «Gloriette» genannt und damit in guter Gesellschaft ähnlicher Konstruktionen, in Schönbrunn, Eisenstadt, in Muskau, auf der Wilhelmshöhe oder in Karlsbad, markierte zwar den hohen, den erhabenen Punkt, diente aber mindest so sehr der Einsicht wie der Aussicht, und diese Einsicht war die gleiche wie überall: Ich stehe oben. Glorietten dienten ursprünglich auch nicht dem Spaziergänger, sondern der Verherrlichung ihres Erbauers, Denkmäler der Landschaftsarchitektur.

      Der Pavillon filigran, Grazie aus Eisen. Acht schlanke, gegliederte Eisensäulchen trugen den runden Reif aus Eisen, der in seinem Durchmesser dem Rund des Innenraums und des Geländers entsprach; darüber schwang sich als rhombisches Netzwerk aus Eisen ein pagodenartig geschwungener zylind­rischer Strumpf hinauf und wurde zur Stütze einer im Durchmesser reduzierten Laterne, deren wiederum acht Eisensäulchen den Hut trugen – darauf, sich noch einmal aufschwingend, ein Türmchen und darauf wiederum zwei in sich schräg versetzte Reifen, wohl den Umlaufbahnen von Sonne und Mond entsprechend, darauf eine Wetterfahne, die mit einem Pfeil die Herkunft des Windes angab.

      Das Interesse der Revolution am Jardin des Plantes war ein populär-wissenschaftliches gewesen, Aufklärung für alle. Aber dieses Lusttempelchen? Es ging auf viel frühere Zeiten zurück. Der Gartenführer gab Auskunft. Bereits im vierzehnten Jahrhundert war an diesem Ort der Bauschutt der eben entstehenden Faubourgs aufgehäuft worden. Der künstliche Hügel wurde im sechzehnten Jahrhundert unter Colbert mit Reben bepflanzt, die im achtzehnten wieder entfernt wurden. Damals nämlich errichtete der Architekt Edmé Verniquet in den immer noch königlichen Gärten das «Labyrinth» und auf seiner Kuppe das Tempelchen, den Kiosk zu Ehren von Buffon. Ganz abgesehen davon, dass schon das Wort Kiosk ein Import aus dem Arabischen war und an den Orientalismus der Zeit erinnerte, war dies, so zart er wirkte, ein kühner Bau. Sechzig Jahre vor Baltard und seinen Eisenstickereien, über ein Jahrhundert vor Eiffel entwarf Verniquet die Gloriette, eine der ältesten Metallkonstruktionen der Welt.

      Ausgeführt in schwerer Bronze, mit Bronzeapplikationen und Dekorationen aus Blei, Kupfer und Gold, trug der Pavillon damals auf seiner Spitze einen Gong statt der Wetterfahne, ein Gong, der jeweils am Mittag schlug – sein Klöppel wurde ausgelöst durch das Durchbrennen eines Fadens, der unter einer Lupe barst. Ein Spielzeug der Aufklärung. Doch die Zeit schmolz mit den Jahrzehnten und Jahrhunderten Verniquets polymetallische Konstruktion zu einer Legierung, die der Elektrolyse, dem Wasser und dem Wetter nicht mehr widerstand. Die Erneuerung in den Achtzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts stellte die Konstruktion des Kiosks wieder her, verzichtete aber auf den Gong.

      Wild sah in die Runde wie von einer Kanzel. Die Gloriette stand am Ende des spiralförmigen Wegs, der zu ihr hinaufführte, an dem Punkt, an dem die Spirale ihr Zentrum hatte. Von hier oben, ganz am Rand des Jardin des Plantes, war deutlich zu sehen, wie dieser Park – anders als die klassischen Lustgärten, in denen ein Labyrinth das Geheimnis der Mitte birgt oder ein Hortus conclusus einen geheimen Schwerpunkt bildet, wie dieser Garten ohne Zentrum war. Merkwürdig spannungslos. Groß und ausgebreitet, doch ohne die Balance zwischen Kultur und Wucherung, zwischen Ordnung und Entropie, jenes fragile Gleichgewicht, das den Gartengestalter beflügelt und dem Flaneur die Ruhe gibt, die Gelassenheit, die er an einem solchen Ort sucht.

      Warum sonst hätte er herkommen sollen?

      Klar, dass Wild sich jetzt an jenen Text erinnerte, den er sich vor einiger Zeit aus dem Englischen übersetzt hatte. Die Exzerpte aus dem Buch eines amerikanischen Philosophen, geboren in Izmir, Lehrstuhlinhaber in Stanford für italienische und französische Literatur, Moderator der Radiosendung «Entitled Opinions» des uni-eigenen Senders, Gitarrist der Rockband Glass Wave, offenbar ein Tausendsassa. Der hatte über Epikur ein paar bemerkenswerte Seiten geschrieben; Wild hatte einiges abgetippt, obwohl er damals keine Verwendung dafür sah. Es ging um Epikurs Garten, gleichzeitig seine Akademie vor den Toren Athens.

      «Um zu verstehen, wie der Garten den Kern von Epikurs Philosophie spiegelt oder sogar verkörpert», hatte Robert Pogue Harrison geschrieben, «muss man sich vergegenwärtigen, dass es sich bei diesem Garten zuallererst um einen Pflanzgarten handelte, der von den Schülern gepflegt wurde, welche sich von Früchten und Gemüse nährten, das sie zogen. Und doch war es nicht wegen des Gemüses und der Früchte allein, dass sie den Boden so eifrig bearbeiteten. Ihre Gartenarbeit war zugleich eine Art Erziehung in den Dingen der Natur, den Zyklen des Wachsens und Vergehens, ihrem allgemeinen Gleichmut, dem ausgewogenen Zusammenspiel von Erde, Wasser, Luft und Sonnenlicht. Hier, in der Konvergenz der natürlichen Kräfte im Mikrokosmos des Gartens offenbarte der Kosmos seine großen Harmonien, hier konnte die menschliche Seele ihre essenzielle Verbindung zur Materie wiederentdecken, hier zeigten lebendige Dinge wie dankbar sie antworten auf die Sorgfalt und die Umsicht des um sie besorgten Gärtners. Die wichtigste Lektion jedoch, die der epikureische Garten denen erteilte, die ihn beackerten, war, dass Leben – in all seinen Formen – unausweichlich vergeht und dass die menschliche Seele das Schicksal teilt von allem, was auf der Erde wächst und wieder verschwindet. Damit bestärkte der Garten den fundamentalen epikureischen Glauben daran, dass der Mensch zugänglich ist für moralische, geistige und intellektuelle Zucht, dass er kultiviert werden kann wie ein Garten.»

      Wild hatte es gefallen, wie Epikur den abgenutzten Begriff von «Glück» ganz praktisch auffasste und mit der Arbeit im Garten verband.

      «Epikur verstand Glück als einen geistigen Zustand und glaubte, er bestehe in erster Linie in der ‹Ataraxia›, was wir als ‹Seelenfrieden› oder als ‹Gemütsruhe› übersetzen könnten (…) Insofern wäre Ataraxia ein in hohem Grad erworbener Geisteszustand.» Ataraxia sei von der gleichen Spannung getragen wie die Heiterkeit des selbst angelegten Gartens, besonders der Spannung zwischen Ordnung und Entropie. Die Epikuräer, die im Hortulus arbeiteten, hätten gewusst, dass unablässige Wachsamkeit und Arbeit nötig war, um

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