Die Gärten der Medusa. Dieter Bachmann
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Das Théâtre Mouffetard war ein Ort der Avantgarde, ein Stück von Ugo Betti war auf dem Spielplan. Von Ugo Betti wusste er nicht mehr, als dass er ein moderner, vielleicht ein avantgardistischer italienischer Autor war. Im «Pariscope» hatte er gelesen, dass es in dem Stück «Corruption au Palais de la Justice» um einen Richter ging, der im Lauf einer Strafuntersuchung auf seine eigene Schuld stößt. «Pariscope» hatte Ugo Betti mit Kafka in Verbindung gebracht. Zu Kafka hätte Wild etwas sagen können.
Helen wunderte sich, dass der Zuschauerraum mit seinen schräg absteigenden Sitzreihen in einem grauen Halblicht lag. Wild war sofort Fachmann.
Arbeitslicht, sagte er.
Sie hatte sich zu ihm gewandt und ihn fragend angesehen. Es war das erste Mal, dass sie ihn richtig ansah.
Das Bühnenportal stand offen, in das gleiche graue Licht getaucht wie der Saal. Es war, so jedenfalls hat Wild sich immer erinnert, als hätte ein leichter Dunst oder Nebel im Raum gestanden. Ein langer Tisch stand quer zur Bühne, nach vorn an die Rampe gerückt, ein Stuhl war daran gestellt.
So ist das heute, sagte Wild.
Wild wusste das. Man hat heutzutage keine Theaterdekorationen mehr, sagte er, kein Bühnenbild und keinen Vorhang. Alles muss aussehen wie irgendwo. Irgendwo ist überall. Überall ist gemeint. Das ist, vermute ich, seit Becketts Godot so. Dort gibt es einen Baum, oder eher einen Strunk auf leerer Bühne, sonst gar nichts. Im ersten Teil hat der Baum ein Blatt, im zweiten auch dieses nicht mehr.
Es waren wenige Leute im Raum.
Wilds ewige Angst, zu spät zu kommen; sie waren viel zu früh. Die wenigen, die bisher gekommen waren, saßen verteilt über den ganzen Raum, einige einzeln, manche zu zweit, sprachen leise miteinander. Andere schienen zu schlafen.
Aber es kam niemand mehr.
Schlecht besucht, dieses Theäterchen, sagte Wild.
Die leere Bühne, der beinahe leere Zuschauerraum, es hätte tatsächlich ein Gerichtssaal sein können.
Auf der Bühne tat sich nichts. Wild versuchte, ihr zu erklären, dass auch dies durchaus dazugehören könne, ein Spiel mit der Geduld, mit der Aufmerksamkeit des Zuschauers.
Die Inszenierung zeigt zunächst einmal nur: das Vergehen von Zeit, sagte er.
Helen sah ihn an.
Aber es tat sich weiterhin nichts. Wild hatte schon mehrmals auf seine Uhr geschaut. Unpünktlichkeit gehörte offenbar dazu, zum Théâtre d’Essai, zum französischen.
Helena kicherte, wie es Wild schien, grundlos.
Inzwischen waren doch an die zwanzig Personen in dem Raum, der vielleicht an die achtzig Plätze hatte.
Dann betrat ein Mann endlich die Bühne.
Wild und Helen schauten gleichzeitig auf.
Der Herr trug einen Straßenanzug und eine Ledermappe, die er vor sich auf den Tisch gleiten ließ. Er setzte sich auf den bereitstehenden Stuhl, schaute in den Saal, setzte eine Brille auf, schaute wieder in den Saal. Dann legte er ein Bündel Papiere vor sich hin. Dann sagte er:
Chers parents. Liebe Eltern. Helena und Wild sahen sich an. Helen lachte zuerst. Zögernd, immer noch ungläubig erhoben sie sich aus dem Plüsch ihrer Fauteuils und schoben sich durch die Sitzreihe zum Ausgang.
Wild hatte sich im Datum geirrt.
Im Foyer kontrollierten sie den Spielplan. Ugo Betti wäre am nächsten Tag gewesen. An diesem Tag war spielfrei. Das Theater war für einen Elternabend reserviert.
Gehen wir was trinken?, fragte Helen. Wild trabte neben ihr her.
Sie schlugen den Weg Richtung Boulevard Saint-Germain ein, hinaus aus der dunklen Rue Mouffetard und über die Contrescarpe und die Rue Descartes hinunter, dorthin, zum belebten Boulevard, wo das Neonlicht blinkte, ein verwegen geschlungener Schriftzug lockte. Im Innern des Bistro liefen dünne, grellbunte Neonrohre in asymmetrischen Bögen über die ganze Decke, während ein Mosaik von Spiegelchen hinter den mit Flaschen beladenen Regalen das grelle Licht spiegelte.
Ein Flipperkasten scherbelte und klingelte in einer Ecke vor sich hin, mitunter gab er sehnsüchtige Lockrufe von sich.
Wild würde jene Bar, das Bistro, das vielleicht als «Brasserie» angeschrieben war, ein Lokal wie jedes andere, von denen es in Paris Tausende gibt, jederzeit wiederfinden, finden wollen, finden mögen, diese hell erleuchtete, spiegelchendurchblitzte, glänzend-glitzernde Höhle in der Großstadt, in dem er Helen zum ersten Mal ohne weiteren Grund und Vorwand gegenüberstand.
Wir bleiben doch an der Bar, hatte sie gleich gesagt.
Standen am Tresen, tranken ein Bier.
Wild hätte niemals zugeben mögen, dass er erleichtert war. Aber jetzt hatte er Helen für sich.
Sie lachte. Die schwarze Mèche, die sie an ihrem Chignon hatte, verdoppelte sich in dem Mosaikspiegel hinter der Bar. Ihr Rock, schmal, lag an den Oberschenkeln an und endete knapp über den Knien.
Ihr erster Abend. Ein Elternabend.
Wild sah sie später immer wieder so vor sich, in den schönen Zeiten, und in den schwierigen auch. Die aufgesteckten Haare, der schwarze Stoffschmetterling. Das helle, in der Hüfte taillierte Jackett, darüber der Mantel, der dunkle Rock.
Eine Art Netzstrümpfe und schmale Schuhe mit einem schmalen Ristriemchen und hohen Absätzen.
Wild hatte Helen damals nicht wiedergesehen. Er fuhr am nächsten Tag zurück in die Schweiz.
Helen war telefonisch nicht mehr erreichbar gewesen. Er hätte sich ja nur irgendwie bedanken wollen, dachte Wild. Er wusste, das stimmte nicht.
Sie verschwand aus Paris, und sie verschwand auch aus den Briefen, die Bert an Wild schrieb.
Bert hatte noch nie eine solche Freundin gehabt. Wie hatte er das bloß gemacht?
Der Freund kam wenige Monate später bei einem Unfall ums Leben. In Paris. Er hatte sich den Arm gebrochen, als er mit seinem Rennfahrrad gestürzt war. Der Bruch heilte schlecht und musste noch einmal operiert werden. Bert, 24-jährig, starb an einer Embolie, durch ärztlichen Fehler.
Manchmal hat Wild das Gefühl, er lebt mit der Zeit, die Bert ihm überlassen hat. Das meiste davon mit Helen, das sowieso.
Das ist er ihr schuldig. Das ist er ihm schuldig. Das steht ihm zu.
Nun endlich steht er auf, Wild. Erhebt er sich. Die Amerikanerinnen sind längst verschwunden.
Addition! Er zahlt sein Perrier mit Zitronenschnitz, Glas, Löffelchen, Tablett, Papierserviette, zahlt den Weißwein, rafft die Zeitung, überquert den Platz.
Juni. Die Place de la Contrescarpe, liegt im hellen Sonnenlicht. Es ist warm geworden, elf Uhr morgens, die beste Stunde an einem solchen Junitag. Die Blätter der Judasbäume wedeln wie mit tausend Händchen. Zwei junge Männer in Jeans lehnen an dem Geländer, das die kleine Grüninsel umgibt. Sie schauen nicht auf, als Wild an ihnen vorbeigeht.