Die Gärten der Medusa. Dieter Bachmann
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Für Epikur sei es notwendig gewesen, dass jeder selbst für sein persönliches Glück sorgte. Wie der Garten verlange persönliches Glück nach der eigenen Pflege, der culture de soi, wie Michel Foucault es genannt habe. «Epikurs Rückzug aus der Öffentlichkeit war kein Rückzug ins Private», hatte Harrison geschrieben. «Der Garten war privater Besitz, gewiss, und dieser Privatbesitz war wesentliche Voraussetzung für die Freiheit am Rand der behördlichen Autoritäten. Das intensive gemeinschaftliche Leben innerhalb der Gartenschule straft die Absonderung, die man diesem Rückzug nachsagte, Lügen.»
Es war nicht nur der kalte Tag gewesen, der Wild den Mantelkragen hatte hochschlagen lassen. Hier war alles auf Belehrung ausgerichtet, die Pflanzgärten, die Ausstellungen, die Sammlungen und die Gewächshäuser. Selbst die Beete im Bereich der großen Allee wussten nur von Ordnung und nichts von Hinfälligkeit und Sterben. Immer noch die alte, die königliche Behauptung. Immer noch der Rasterplan von Versailles.
Repräsentanz bedingt Ordnung. Hier hatten die Blumenbeete wie Soldaten anzutreten.
Erst die Gloriette, dachte Wild, als er langsam den Hügel hinunterging, erst dieser sozusagen ungerade Ort, dieses hortensische Seitenkabinett mit Erinnerungsbäumen, Tempelchen und dieser Spirale, diese von ihrem Kern her abgewickelte Wegschnecke, haben nun etwas bei mir bewegt. Mich auch nicht zufällig an meinen Pückler erinnert und Branitz mir vors Auge gerufen.
Vor dem Hauptgebäude, einem ehemals fürstlichen Gebäude, das nun nach zahlreichen Umbauten die Grande Galerie de l’Evolution beherbergte, standen in Kübeln eine Reihe von Weihnachtsbäumen, weiß gespritzt und gepudert wie die barocken Perücken der ehemaligen Bewohner des Palais, eine merkwürdige Entstellung von Pflanzen ausgerechnet in einem Botanischen Garten.
Da stand auch das Denkmal, hier am Ende der großen Fläche, dieses botanischen Aufmarschfeldes, Champ de Mars, das Denkmal, das dem ersten dort unten an der Seine, beim Eingang, entsprach. Dort Lamarck, hier aber Buffon, der große Zoologe. Eine überlebensgroße Bronze mit bronzener Perücke. In der Rechten ein Buch, in der Linken einen Vogel mit ausgebreiteten Flügeln, saß Buffon auf einem bronzenen Sessel. Dieser wiederum stand, wie merkwürdig, auf einem bronzenen Löwenfell. Der Schädel des Tiers ragte auf der einen Seite unter dem Fauteuil hervor, auf der andern sah Wild die Hinterläufe, hing der Schwanz, bronzen, herunter. Der Tierforscher auf dem Löwenfell, das musste eine Zeit gewesen sein, da die Zoologen sich noch mit der Entstehung der Arten beschäftigten und nicht mit ihrem Aussterben.
Wild, ça suffit!
Einen Garten sucht man auf, um ihn wieder verlassen zu können. Wild wollte zurück in die Ruppigkeit der Stadt, ins Gedränge, den Lärm, ins Heftige. Ein Seitenausgang führte in die Rue Buffon.
Knapp vor dem Gittertor, auf den letzten Metern, zog ein Gartenrechteck Wilds Aufmerksamkeit auf sich. Quadratische Beete, Rosentreppen und eine helle Steinfigur im Hintergrund. Betreten war hier nicht verboten. Wild trat über einen feuchten, leicht sumpfigen Eingangsbereich in den kleinen Garten. Winterruhe. Eine einzelne Rose blühte, die Pflanze hatte nur noch wenige, feuchte Blätter. Der früh gefallene und inzwischen wieder geschmolzene Schnee hatte das Blattgrün zerkocht und faulig zurückgelassen, braun wie welken Salat.
Le jardin des iris et des vivaces. Ein Ort für die verschiedensten Iris, über zweihundertsechzig Arten davon soll es geben, daneben Rosen, auch Rosmarin, Salbei. Päonie, las Wild, Begonie, Lilie, Clematis, Veronica, Dahlia, Geranium und Fuchsia. Narcissus poeticus. Aber nichts davon, außer Kraut, war zu sehen.
Eine nackte Steinfrau hielt einen Wasserkrug vor ihrer Scham. Sie neigte ihren marmornen Lockenkopf sanft zur Seite und sah, ihre nach unten gewendete Amphore so nachlässig in der Hand, als würde sie sie gleich fallen lassen, auf die kahlen Beete. Die Andeutung eines Lächelns stand in ihrem Gesicht, aber nur eine Andeutung. In die Lockenfrisur waren Blüten und Pflanzenblätter geflochten. Ein feines Tuch aus Stein bedeckte ihre linke Brust, die rechte war frei. Warum? Das dünne, auf der Brust wie Hauch aufliegende Tuch hatte den Bildhauer gewiss mehr Arbeit gekostet als die andere, die bloße Brust; warum hatte er sie bedeckt? Ja, das Halbverhüllte, dachte Wild, das Vorgezeigte und doch Verborgene, die Gleichzeitigkeit des Verweigerns und des Versprechens, es gehört eben zum Eros.
Eine Nymphe.
Die Skulptur war von einem Isidore Hippolyte Brion, anscheinend aus dem Jahr 1837. Bewegte Pariser Zeit. Wieder hergestellte Monarchie, Unterdrückung und der Weg zu 1848. Louis Philippe, der Lustmolch, und die Prinzessin Belgiojoso, die Freiheitskämpferin aus Italien. Sie hatte ihren Mann verlassen und dem Risorgimento angehört, vor Metternichs Schergen war sie aus dem habsburgisch besetzten Norditalien nach Marseille geflüchtet und aus Südfrankreich 1831 nach Paris gekommen.
Cristina verfasste kämpferische Pamphlete, war Botin geheimer Nachrichten und Passfälscherin. In der Zeit, in der Isidore Hippolyte Brion die Nymphe mit dem Krug modellierte, hatte die Belgiojoso, die ihr gleicht auf den Bildern, welche Francesco Hayez und Henri Lehmann von ihr gemalt haben, einen literarischen Salon in Paris, in dem Balzac, Chopin, Liszt und Musset verkehrten. Mit Heinrich Heine war sie befreundet.
Hatte sie dem Bildhauer Modell gestanden?
Jedenfalls schien es Wild, die nackten Damen, die in den Parks herumstehen, seien unter Umständen nicht so harmlos, wie das spätere Auge sie sieht. Noch jede dieser stummen Damen hat ein lebendes Vorbild, ein Modell, und sie drücken etwas aus, was über ihre Nacktheit, oder über ihre Rolle als Nymphe weit hinausgeht. Diese hier, wenn es denn wirklich die Belgiojoso war, hätte nebenbei einen vierbändigen Essay über die Entstehung des katholischen Dogmas geschrieben.
Hundertfünfzig Jahre später, an diesem klammen Wintertag hatte sie eine andere Botschaft. Wollte die Steinfrau Wild nicht sagen, wie unendlich langsam in ihrem Garten die Zeit vergeht? Und besonders, wenn man, zu Stein geworden, ein Jahrhundert über ihn wacht. Das einfach Daseiende, das Ruhende ist schwer auszuhalten, dachte er. Dabei sind solche Orte, die scheinbar ohne Attraktion sind, immer mehr die attraktivsten. Man muss nur einen Schritt über sie hinaus tun, und man sieht, dass der Rest der Welt inzwischen vernichtet worden ist.
Helen als Baigneuse, sie hatte das Tuch immer über beiden Brüsten verknotet, wenn sie aus dem Badezimmer kam, eine Grenze von blauem Frottee, die ihre helle Haut begrenzte. Man sollte nicht zu viel von ihr sehen. Und doch, einiges schon. Das Frottee reichte, vielleicht grade deshalb, weil es oben so viel decken musste, manchmal nur knapp über die Scham.
Einen Krug brauchte Helen nicht. Ein Krug im täglichen Leben wäre lächerlich. Das ist das Schöne an der Kunst, dachte Wild, dass dieser Krug, der im täglichen Leben lächerlich wäre, hier unbedingt sein muss. Der Wasserkrug der Nymphe; das Zeichen dafür, dass sie Quellgöttin sein darf.
Worunter wir uns nicht mehr vorstellen müssen, dachte Wild, als ein junges Mädchen, das halbverhüllt in einem Hain steht, ein Mädchen aus Fleisch und Blut, eines, das dich lieben könnte. Edouard Manet hat genau dies knapp dreißig Jahre später gemalt mit seinem «Déjeuner sur l’herbe», dies und nichts anderes.
Ein paar Schritte vor dem Ausgang auf die Rue Buffon, knapp vor dem Eisenzaun, stand ein weiß-rosa blühender Baum. Prunus subhirtella – Cerisier d’hiver. Aus der Familie der Rosaceae, Pflaume, Kirsche und Rose zugleich. Schüchtern tastendes Blühen an diesem Wintertag, in der Balance zwischen Abschied und Verheißung.
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