"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst". Chiara Maria Buglioni

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу "Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst" - Chiara Maria Buglioni страница 18

Скачать книгу

Zusammenarbeit zwischen Intellektuellen, Theoretikern, schon ausübenden sowie debütierenden Künstlern, die sich jeweils durch eine Verflechtung ihrer Praktiken gegenseitig legitimierten. Rolf Parr, Literaturhistoriker und anerkannter Forscher auf dem Feld literarisch-kultureller Vereine vor und nach dem ersten Weltkrieg, hat versucht, das Phänomen systematisch zu kontextualisieren: Im wilhelminischen Deutschland hätten das Prosperieren von Technik, die Industrialisierung und die Universalisierungstendenz eines kapitalistischen Systems zur Radikalisierung der Opposition zwischen vorhandenem Materialismus und mangelndem Idealismus geführt, »was notwendigerweise kulturkritische Konzepte mit kompensatorischer Intention auf den Plan rufen mußte, die von einer nach 1860 geborenen und bereits im Reich aufgewachsenen Generation von Intellektuellen getragen wurden« (2000: 47). Man betrachtete also die schwache nationale Identität der Deutschen als direkte Folge des kulturellen Verfalls und beabsichtigte daher, das Verhältnis zwischen Nationalidentität und Kultur zu problematisieren:

      Für diesen Teil des wilhelminischen Bildungsbürgertums galt es, zum einen nach „außen“ zu expandieren und zu kolonisieren, […] zum anderen nach „innen“ die deutsche Kultur zu erneuern, um damit […] das Spezifische eines präsupponierten deutschen Nationalcharakters und zugleich die eigene sozio-ökonomische Stellung zu sichern. (Ebd.)

      Die konsequente Reaktion sei eine konservative Kulturkritik gewesen, welche die Kunst idealistisch verstand, wobei sie diese mit einem germanischen Kult verband. Das Volk würde somit

      zum utopischen Zielbegriff einer noch zu verwirklichenden neuen nationalen Inte­gration, um deren Realisierung sich um 1900 eine Vielzahl kulturkritischer, lebensreformerischer und in der Regel zugleich völkisch-religiös akzentuierter Gruppe, Bünde, Orden, Gemeinschaften und Kreise bemühte, die teils mit minimalen Distinktionen in Konkurrenz zueinander standen, sich teils in übergeordneten Verbänden kooperierend zusammenschlossen. (49)

      Der Ansatz einer konservativen Kulturkritik4 ebenso wie der eines reaktionären Modernismus im Sinne Jeffrey Herfs5 übersieht jedoch die ständige Gegenübersetzung von Denkern und Künstlern mit auktorialen Instanzen – seien sie Verkörperung der kulturellen Tradition oder Ausdruck der politischen Macht –, die Öffnung der deutschen Kunst zu ausländischen, sogar transnationalen Stilen6 sowie die Aushandlung von Bedeutungen, Funktionen und Praktiken zwischen Mitgliedern zwar unterschiedlicher, jedoch verbundener Gemeinschaften, Künste und Disziplinen.

      Die Münchner Moderne kann eigentlich als »constellation of interconnected practices« bezeichnet werden. Damit meint Wenger Beziehungen zwischen Lerngemeinschaften, welche gemeinsame historische Wurzeln, voneinander abhängende Projekte sowie einige gemeinsame Mitglieder haben, einen gemeinsamen Zweck erfüllen oder einer Institution angehören, sich mit denselben Sachverhalten konfrontieren, Artefakte miteinander teilen, entweder geographisch oder durch Interaktion naheliegen, Überlappungsdiskurse oder -stile zeigen und welche schließlich für dieselben Ressourcen in Konkurrenz stehen (1998: 127). Die Interaktion zwischen Praktiken gibt der Konstellation eine gewisse Kontinuität und, umgekehrt, eine einzige CoP produziert und reproduziert die Verbindungen, Stile, Medien, Werkzeuge und Diskurse, durch die sie dazu beiträgt, eine breitere Konstellation zu bilden (130). Dieser Aspekt der Moderne in München ist noch prägender, wenn man die Abgrenzung und Strukturierung ihrer vielen praxisorientierten Gruppierungen betrachtet. Die Abgrenzung ist immer das Resultat historisch gewachsener und gemeinsam benutzter Handlungs- und Deutungsmuster, welche sich nur zum Teil in formal-organisatorischen Parametern spiegeln: »Sie sind vor allem Ergebnis von Aushandlungsprozessen zwischen betrieblichen Akteuren, die sich im Produktionsalltag immer wieder neu vollziehen« (Wehner/Clases/Endres 1996: 79). Die Träger der Geschichte und Tradition einer CoP sind daher die Produktionsmittel, bzw. Artefakte, und die Organisationsstrukturen. Eine so markierte Abgrenzung der kulturellen CoPs war aber um 1900 in der Hauptstadt Bayerns nicht vorhanden, was folglich daran zweifeln lässt, ob man von Communities of Practice überhaupt sprechen kann. Sie waren vielmehr embryonale praxisbezogene Gruppierungen, die einfach gemeinsame Interessen teilten oder die sich um starke Persönlichkeiten sammelten, ohne die Bedingungen für eine gemeinsame Unternehmung auszuhandeln. Sie mangelten ferner an einem im Laufe ihrer Existenz erzeugtem Repertoire, das sie von anderen Lerngemeinschaften unterscheiden ließ. Auch die charakteristische Multimitgliedschaft und Vielseitigkeit der Gesellschaften der Münchner Bohème gefährdete ständig ihre Grenzen und Peripherien7 sowie ihre Reproduktion, d.h. die Tradierung lokaler Deutungsmuster und relevanter Handlungssegmente. So ist es kaum verwunderlich, dass alle künstlerisch-geselligen Zirkel ihre interne Dynamik nicht lange zu bewahren wussten, nur wenige Jahre dauerten und mehrmals neugegründet wurden – oft mit anderen Namen. Schon 1954 vertrat Heribert Wenig in seiner – übrigens von Borcherdt und Kutscher selbst betreuten – Dissertation zu deutschen akademisch-dramatischen Vereinigungen eine ähnliche Ansicht:

      Eine kulturelle und künstlerische Erneuerung im sozial-ethischen Sinne hätte der Parteisozialismus in seiner Beschränkung auf wirtschaftliche und politische Probleme freilich nicht durchführen können. Erst die Hilfe einer Gruppe von Individualisten, die sich aus allen Gesellschaftskreisen zusammensetzten und nur durch ihre sozialistischen Neigungen verbunden waren, vermochte das zu tun. Diese Repräsentanten des sozialen Gewissens der Zeit bildeten, ohne dass man sie gesellschaftlich hätte einordnen können, eine Art anonyme Partei. Es war eine Partei der Jugend, in der die akademische besonders vertreten war und sich hervortat. Sie war kaum ein Feind des Kapitalismus im sozialdemokratischen Sinne, sie kämpfte nur gegen die Macht des Kapitals über die geistige Freiheit. Erfüllt von nationalem Stolz, zog sie gegen den nationalen Illusionismus zu Felde. […] Das ewige Preisen und Beschönigung nationaler Tugenden und der zur Macht und Reichtum führenden Errungenschaften bedeuteten für sie hauptsächlich einen Rücktritt. […] Diese Partei verfolgte vor allem soziale und ethische Ideale. Und sie fand hauptsächlich auf dem künstlerischen Gebiet für das Zustandekommen einer sozialen Kultur zusammen. So war es zunächst mehr ein Programm der Vereinigung […]. (7)

      Die erste Proto-Lerngemeinschaft der Münchner Moderne, welche die vorher erwähnten Züge trägt, entwickelte sich um die Literaturzeitschrift „Gesellschaft. Realistische Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben“, die am 1. Januar 1885 gegründet wurde. Die Beschreibung ihrer Entstehung und Veränderung soll dem Zweck dienen, die Probleme der konkurrierenden Künstlerkreise vor Augen zu führen, die von ihr ausgingen.

      Die „Gesellschaft“ bildete sich weniger aus gemeinsamen Ideen oder Projekten als vielmehr aus der generellen Verurteilung des als steril empfundenen Epigonen-Klassizismus der „offiziellen“ Kultur. Darüber hinaus strebten alle Mitglieder danach, ein politisches Diskussionsforum für die Moderne natura­listischer Prägung zu errichten. Die epochemachende Nähe zwischen Kunst und soziopolitischen Bemühungen kennzeichnete bereits sowohl die Zeitschrift als auch die an ihr gebundene „Gesellschaft für modernes Leben“, welche am 29. Januar 1891 in der Gaststätte Isarlust ihre erste öffentliche Veranstaltung durchführte. Wenn der Klassizismus von Heyse und Kollegen eine Flucht im wirklichkeitsentfernten Idealismus gefunden hatte, wollten Michael Georg Conrad – Hauptvertreter des Naturalismus in München – Otto Julius Bierbaum, Julius Schaumberger, Georg Schaumberg, Hanns von Gumppenberg und der von vielen als Inbild des modernen Dichters verehrte Detlev von Liliencron »die künstlerische Produktion mit einem Engagement für die „Verbesserung der Lebensführung der Armen und Notleidenden jeder Art und Herbeiführung vernünftiger Lebensgestaltung“ und damit Kunst und Politik verbinden« (Wilhelm 1993: 16). Schriftsteller, Journalisten, Dramatiker und andere Künstler verlangten also ein gesellschaftliches, ja politisches Engagement, ohne damit parteipolitisch zu sein. Der erste Paragraph der Satzung der „Gesellschaft für modernes Leben“ lautete:

      Zweck der Gesellschaft ist die Pflege und Verbreitung modernen schöpferischen Geistes auf allen Gebieten […] durch Vortragsabende, Errichtung einer freien Bühne, Veranstaltung von Sonderausstellungen von Werken bildender Kunst, Herausgabe einer Zeitschrift und sonstiger literarischer Veröffentlichungen. Politische Tendenzen irgendwelcher Art stehen der Gesellschaft fern. (zit. nach Wilhelm 1993: 18)

      Wenn

Скачать книгу