"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst". Chiara Maria Buglioni

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aus einer echten künstlerischen und kunstpolitischen Leidenschaft und Begeisterung heraus lebte und schuf […]. (1944: 137f.) (Herv. v.V.)

      Man könnte auch sagen, das Kabarett habe sich aufgelöst, weil die Gemeinschaft von Künstlern als Innovationsknotenpunkt zunehmend an Gewicht verloren hatte: Andere Unterhaltungstheaterformen waren in München entstanden, die über andere Quellen und Ressourcen verfügten, um die Utopie sozialer Reformen weiter durch die Kunst voranzutreiben. Schon am 20. April 1901 war das Schauspielhaus in der Maximilianstraße, nach zehnmonatiger Bauzeit, mit Johannes von Hermann Sudermann eröffnet worden. Die Intendanz übernahm Ignaz Georg Stollberg, für den die Teilnahme an dem „Akademisch-Dramatischen Verein“ der Einstieg in seine große Karriere war. Das Schauspielhaus wurde blitzschnell zum Forum der Avantgarde, das aber ein Repertoire von schon etablierten modernen Dramen mit einer Vielfalt deutscher und französischer Possen verband. Das vom Architekt Littmann und vom Künstler des Jugendstils Riemerschmid errichtete Gebäude selbst war das Ergebnis einer modernen Theaterarchitektur, die gegen das sogenannte ‚Luxustheater‘ mehrere Versuche unternahm, das Auditorium einzubinden. Max Littmann11 erkannte gerade in der Einheit von Bühne und Publikum neue Wahrnehmungsmöglichkeiten: Er plädierte »entschieden gegen das Rangtheater zugunsten eines Amphitheaters, das sich durch eine weitgehende Gleichwertigkeit seiner Plätze auszeichnen würde« (Brauneck 1999: 638). Ab 1903 wurde auch ein Volkstheater (Josephspitalstraße, Stadtteil Altstadt-Lehel) tätig: Als Eröffnungsvorstellung wurde Schillers Kabale und Liebe geboten. Das Repertoire bestand aber nicht nur aus Klassikern, sondern auch aus Schwänken, Possen und Farcen.

      Eine künstlerische und gesellschaftliche Neugeburt

      Im frühen 20. Jahrhundert wurde das Theater allmählich als notwendige, soziale, ja kulturelle Praxis betrachtet, um die Kluft zwischen Kunst und gesellschaftlichem Leben zu überbrücken. Jelavich’ These einer Karnevalisierung von Theaterformen, im Sinne einer Überwindung von binarischen Gedanken wie gut/böse, Seele/Körper oder Sein/Schein1, gewinnt in dieser Hinsicht an Bedeutung, wenn man sie als eine ästhetische Verdoppelung kultureller Aufführungen ansieht. Theaterformen und -stile, die sich mit der Theatralität im breitesten Sinn bekannt machen, produzieren eine kondensierte, gesteigerte Inszenierung einer sich selbst wahrnehmenden Öffentlichkeit, durch die sich das Publikum, mitsamt den Akteuren, seines Zustandes bewusst wird. Weitere Aufschlüsse über die abgezielte Transgression jedes ästhetischen sowie ethischen Wertsystems einer unfruchtbaren Vergangenheit, die das Volk als Quintessenz der Gesellschaft vergessen hatte, bringt die damalige Nietzsche-Rezeption. Nach dem Tod Nietzsches wurde sein Gesamtwerk als auch seine Person zum Gegenstand öffentlicher Debatten und opponierender Positionen: Es war ein Pflichtpensum, sich mit ihm auseinanderzusetzen2. Neben dem visionären Philosophen, der ein neues vom selbstschöpferischen Übermenschen beherrschtes Zeitalter prophezeite, zog man auch den Gesellschaftskritiker in Betracht, der das bürgerliche Vakuum demaskierte.3 Dieter Borchmeyer (2009) betont zu Recht, dass sich Nietzsche über die Moderne, bzw. über die Ästhetik und Kunst seiner Epoche, nie positiv geäußert hatte, und trotzdem wurde er zur Schlüsselfigur für viele künstlerisch und geistig Schaffende um die Jahrhundertwende. Das enthält jedoch kein Paradox, weil die heranwachsenden Künstler der Moderne sie nie als Endstation verstanden, sondern als Durchgangsstation. Wenn bei Nietzsche die moderne Kunst mit den Begriffen ‚Romantik‘ und ‚Dekadenz‘ verbunden ist, und daher die gegenwärtige Krankheit, Geistesschwäche und Identitätszersplitterung veranschaulicht, ist sie auch ein notwendiger Schritt in Richtung einer Neugeburt – der Kultur eben wie der Menschheit.

      Eines steht für Nietzsche fest: Auch wer die Décadence überwinden will, muss sie an sich selbst erfahren haben, muss sich ihr stellen und sie bis auf den Grund durchschauen. […] Nietzsches eigenes Ideal der dionysischen als einer Kunst des aufsteigenden Lebens entspricht demgegenüber der Selbsterfahrung des Décadent und bleibt dialektisch auf sie bezogen. (Borchmeyer 2009: 37)

      Die dekadente Moderne war für Maler, Schriftsteller, Theatermenschen und Denker um 1900 der Rahmen einer neuen Kreativität, eines reformstrebenden Debattierens und Experimentierens, der sich jenseits der Kunst ausdehnte und die Lebensführung selbst hineinzog. Kunst und Kultur galten somit als kräftige Re-Aktion auf eine heuchlerische, lästerliche, passive Zeit. »Persönlich konnten wir Älteren uns mit den Jüngsten im Allgemeinen recht gut verständigen. Sie gehörten fast alle zu der Boheme, die ja auch wir als Durchgangsstation passiert hatten, waren der Parteipolitik erfreulicherweise ziemlich fremd, der kommunistischen Utopie nur vereinzelt zugetan« (Martens 1924: 155). Was alle, sogar die exklusivsten Gesellschaften und Vereine der Schwabinger Bohème bestimmte, war eine Regenerationsbewegung, die nach einer allgemeinen gesellschaftlichen Erneuerung strebte. Die Erwartung und zugleich Vorbereitung dieser Neugeburt fand in der Münchner Faschingstradition ihre Spiegelung und die Teilnahme an beliebigen Karnevalsfesten übernahm für Künstler, Dichter und Denker eine wichtige Funktion: die Erzeugung der geistigen Atmosphäre, die die neue Kunst inspirieren sollte. Selbst unter einem präzisen Reglement besteht das Festliche gerade darin, »bestimmte Regeln, nämlich die Beschränkungen des Alltags zu überschreiten – etwa zugunsten einer rauschhaften Verausgabung oder einer intensiven Gemeinschaftserfahrung« (Warstat 2005: 104). Emblematisch wirkt hierzu die Haltung der dem George-Kreis naheliegenden Gemeinschaft der „Kosmiker“. Um den ‚Meister‘ George gravitierten die ‚Enormen‘ Karl Wolfskehl, Ludwig Klages, Alfred Schuler und, bis 1901, Ludwig Derleth: Seit 1899 trafen sich die Freunde in der Wohnung Wolfskehls4 – Inbegriff des ‚Wahnmochings‘ –, im Café Luitpold oder in anderen Schwabinger Lokalen, um über Kultur, Mystizismus, Erotik und Zivilisation zu diskutieren. Der Name ‚Die Kosmiker‘ stammte aus ihrem ideologischen Credo, da »ihr Denken das kosmische Leben über das Einzelleben stellte und in kosmischen Beziehungen das Vorbild für symbiotische Verbände unter den Menschen erblickt wurde« (Schneider 1999: 386). Der Einfluss Nietzsches und die Begeisterung für dessen Wiederentdeckung des Heidentums und der Urnatur war nicht nur in der theoretischen Position der Kosmiker sichtbar, sondern auch in deren maßloser Leidenschaft für Feste, Bälle und Maskeraden.5 Die „heidnischen Feste“ der Kosmiker-Runde fanden vorwiegend während des Münchner Faschings statt und richteten sich an die Wiederbelebung einer heidnischen, reinen Lebensform. Sie bezogen daher Maskenumzüge mit historischen, mythologischen oder allegorischen Kostümen, Prozessionen mit Gesangbegleitung, saturnalische Tänze, bacchantische Betätigungen, Vorlesungen angemessener Werke, einen Rauschzustand und die Dionysos-Identifikation der (kosmischen) Beteiligten ein: Das Ganze konstituierte ein Ritual, eine kultische Feier mit steifem Zeremoniell. Die durch die Faschingsatmosphäre übermittelte Selbstinszenierung diente zur Belebung einer verkehrten, alternativen, geistigen Welt, in der eine gereinigte, regenerierte Menschheit erwachen konnte. Außer den privaten Feierpraktiken beteiligten sich die Kosmiker und andere Künstler mithin an der Wiederentdeckung von urtümlichen öffentlichen Theaterformen, wie die Krippenspiele6 oder die unter der Leitung des Literaten Frhr. Alexander von Bernus stehende Bühne „Schwabinger Schattenspiele“.7 Der moderne Mystiker Bernus – so wie er sich selbst konzipierte – verstand sein Unternehmen als ästhetisches Experiment, das sich von den naturalistischen Konventionen der zeitgenössischen Theaterpraxis löste: Das erneuerte Schattentheater sollte die Flächenkunst des Jugendstils zur szenischen Bühne des lyrischen Ausdrucks transformieren. Die Aufführungen zielten darauf hin, die »entmaterialisierte Welt der wachen Träume« als Ausdrucksform der neuromantischen Dichtkunst sichtbar zu machen (zit. nach Wilhelm 1993: 165). Neben Stücken des romantischen Schattenspielrepertoires kamen bald neue Dichtungen zur Aufführung, wie Karl Wolfskehls Thors Hammer, die der vom Symbolismus beeinflussten Sprachmagie Georges nahestanden. Die magische Qualität des Schattenspiels ermöglichte die Entdeckung einer mystischen Dimension jenseits der Grenzen der konventionellen Wahrnehmung, was auch Georg Fuchs ständig hervorhob.

      Die Popularisierung und Karnevalisierung des Theaters sind ihrerseits Zeichen dafür, dass die Münchner Theaterszene zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Gruppierungen multipler Mitgliedschaft charakterisiert war, die darauf abzielten, durch eine moderne – sprich: reformierte – Bühnenkunst auf den sozialpolitischen Kurs Einfluss zu haben. Die Bewusstmachung der Realität durch die verkehrte Welt des Theaters ebenso wie die

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