"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst". Chiara Maria Buglioni

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und Zeremonien, wie etwa den Stammtisch, die Veranstaltung von Theateraufführungen, Autorenabenden oder die Veröffentlichung wissenschaftlicher Texte. Speziell soll aber auch auf die mangelnde Aushandlung von Bedeutung innerhalb der „Gesellschaft für modernes Leben“ eingegangen werden, da sie ihre Weiterentwicklung behinderte. Ein klares Beispiel dafür bietet der dritte Vortragsabend der Gesellschaft, als Hanns von Gumppenberg aus den Werken von Karl Henckell vorlas, der als proletarischer Dichter galt8. Er las auch das Gedicht An die deutsche Nation vor, in dem sich Henckell schonungslos gegen den Kaiser äußert. Das Publikum protestierte vehement, man klagte von Gumppenberg wegen Majestätsbeleidigung an und die „Gesellschaft für modernes Leben“ distanzierte sich vom politischen Inhalt des Gedichtes, indem sie erklärte, sie hätte nur dadurch literarisch-künstlerische Tendenzen zeigen wollen. Auch von Gumppenberg verteidigte sich vergebens im Laufe der Gerichtsverhandlung auf diese Weise: Am Ende wurde er zu zwei Monate Festungshaft verurteilt9. Kurz nach dem Ende des Prozesses richtete sich die Münchner Polizei gegen die Zeitschriften „Gesellschaft“ und „Modernes Leben“, die ebenfalls Beiträge naturalistischer Autoren veröffentlichten. Der Naturalismus wurde weiterhin als verdächtig angesehen, als Inbegriff von Nihilismus und Atheismus, als Sprachrohr der Sozialdemokratie. Conrad distanzierte sich prompt von solchen Anklagen, wobei er sich mehrmals innerhalb weniger Monate als Nationalist, Protestant und SPD-Gegner öffentlich bezeichnete. Die Position Conrads wurde aber von anderen jüngeren Mitgliedern der Gesellschaft nicht geteilt, was zu einem ideologischen Bruch führte: Schon Ende September 1891 bemerkte Schaumberger in einem Brief an Max Halbe, die „Gesellschaft“ mangele inzwischen an Einheit und Einigkeit.10 Conrad und seine Vertrauten einerseits sowie die jüngeren Künstler andererseits waren nicht in der Lage, die Gemeinschaft zu erhalten und ihre Bedeutung, ihre Prinzipien sowie ihre Aktivitäten auszuhandeln. Nur die Aushandlung der Bedingungen innerhalb einer Lerngemeinschaft ermöglicht nämlich die Reziprozität des Vertrauens unter den Mitgliedern, die zum wesentlichen Bestandteil der Praxis wird. Im Fall der „Gesellschaft“ könnte man auch sagen, dass ihr gemeinsames Projekt bzw. das Ergebnis eines kollektiven Aushandlungsprozesses als zu schwach resultierte und die Personengruppe löste sich auf, sobald die partikulären Interessen der Mitglieder in der Praxis der Gemeinschaft nicht mehr integriert werden konnten und die Gesellschaftspraxis sich zugleich durch die partikulären Interessen der Mitglieder nicht mehr modifizieren ließ. Sehr schnell traten konkurrierende Literaturkreise, literarische Gesellschaften und Kulturstammtische in München auf, die die Existenz der „Gesellschaft für modernes Leben“ überflüssig machten und ihre Mitglieder anzogen. Die „Nebenregierung“, mit der Josef Ruederer und junge Musiker, Maler und Schriftsteller die zwei ‚Hauptregierungen‘ – bzw. den Naturalismus der „Gesellschaft für das moderne Leben“ und den Klassizismus eines Paul Heyse – herausfordern wollten,11 ist nur ein Beispiel für einen Anhängerkreis, dessen Trägerschaft zu elitär blieb und dessen Einsatzraum zu begrenzt war.

      Theaterdebatten und -experimente in München

      Die erfolgreichste neue Gesellschaft war „Der Akademisch-Dramatische Verein“, die ihren Wissensbereich deutlicher als die vorherigen Gemeinschaften bestimmte, Stile, Rituale und zeremonielle Aktivitäten für ihre Erhaltung eta­blierte und jedem legitimen Mitglied erlaubte, an den verschiedenen Handlungssegmenten teilzunehmen. Der am 27. November 1891 von Studenten der Münchner Universität, Intellektuellen und ausübenden Künstlern zur Förderung der modernen Kunst gegründete Verein identifizierte das lebendige Theater als seinen Wirkungsbereich, nach dem Vorbild der Berliner „Freie Bühne“. Als das Programm zur Förderung der gegenwärtigen Bühnenkunst vom Münchner Schauspielhaus zunehmend übernommen wurde, nutzte der Verein die Gelegenheit, sich anderen Zielen zuzuwenden: erstens der Popularisierung debütierender Dramatiker und Schauspieler, zweitens der »Pflege noch unbekannter oder kaum gespielter Werke vergangener Zeiten«, wie das Dialektlustspiel Datterich von Ernst Niebergall (Wenig 1954: 35). Der Verein distanzierte sich Schritt für Schritt vom naturalistischen Kurs, als man spürte, dass der Naturalismus längst tot war: »[D]ie enge Zusammenarbeit mit jungen Schriftstellern der verschiedensten Richtungen und die fruchtbare Auseinandersetzung mit dem sich immer mehr der „Moderne“ öffnenden Berufstheater bewahrten den „Akademisch-Dramatischen Verein“ vor Einseitigkeit und Erstarrung in literarischen Dogmen« (Hartl 1976: 67). Demnach inszenierte man sowohl Dramen von Ibsen, Hauptmann, Sudermann und Max Halbe als auch Stücke von Maeterlinck, Wilde, D’Annunzio, Wedekind und drei Dialoge (4.–6.) aus Arthur Schnitzlers Reigen1, was am 28. November 1903 die Auflösung des Vereins durch die Universitätsbehörde zur Folge hatte. In dieser Hinsicht zeigte der Verein eine gewisse Elastizität im Aushandlungsprozess von Ressourcen und Werkzeugen, was nur wenige Tage nach seiner Auflösung, am 20. Dezember, zur Gründung der Nachfolgeorganisation „Der Neue Verein“ führte. Der treibende Impuls für die Neugründung war das Vorhaben, »die guten künstlerischen Überlieferungen zu wahren und die wertvolle Bibliothek« sowie die Sammlung neuerer Literatur zu retten (Kutscher 1955: 249). Josef Ruederer war erster Vorsitzender, während sich Georg Hirth, Thomas Mann, Otto Falckenberg und der Rechtsanwalt Wilhelm Rosenthal – später erster Vorsitzende sowie Direktor der „Emelka“ – den Vorstand bildeten. Gerade in diesem „Neuen Verein“ hielt Georg Fuchs am 10. November 1904 den Vortrag über das nur in München durchführbare »kameradschaftliche Zusammengehen der dramatischen Entwicklung mit der bildenden und darstellerischen Künstlerschaft« und über die »Lösung des Theaterproblems«. Dort fand er »die lebhafteste Zustimmung führender Persönlichkeiten der bildenden und angewandten Kunst« und die Einsatzfreude seines späteren Mitarbeiters Max Littmann (1909: 203). Der Verein war kurzum »[e]in Experimentier-Institut für moderne, gefährliche, dem Zensor unsympathische Aufführungen. Jede Veranstaltung dieses Vereins war ein Kulturereignis für München« (Mühsam 1977: 169). Der Erfolg und die Stabilität der Umwandlung vom „Akademisch-Dramatischen Verein“ zum „Neuen Verein“ beruhten darauf, dass sich ihre Mitgliedschaft fast jedes Semester erneuerte und immer neue Ideen und Kräfte in die Gruppierung aufgenommen wurden: »Daneben gab die demokratische Ordnung der Statuten ausgeprägten und berufenen Persönlichkeiten die Möglichkeit, schnell und wirkungsvoll die literarischen und künstlerischen Geschicke des Vereins zu beeinflussen« (Wenig 1954: 42). Die Gestaltung des gemeinsamen Projekts erwies sich folglich als außerordentlich flexibel, so lebte der Verein bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs weiter. Die Gesellschaft, die in der Zeitspanne 1905–1910 mit dem „Neuen Verein“ in Konkurrenz trat, war die von Conrad, Halbe und Kurt Martens geleitete „Münchner Dramatische Gesellschaft“. Diese »suchte ihre Hauptaufgabe in der Entdeckung und Förderung neuer Autoren. Damals, wo der Nachwuchs der Dramatiker von den großen Bühnen noch nicht so verwöhnt ward wie heutigen Tages, hatte das noch einen Sinn. Gleich der erste Versuch gelang über Erwarten2« (Martens 1924: 32). Sie war ihrerseits die Nachfolgerin der im Frühjahr 1900 erloschenen „Münchener literarischen Gesellschaft“, die zumindest erwähnt werden muss, weil sie im April 1898 Shakespeares Troilus und Cressida auf die Bühne brachte, was die ganze Idee der Gesellschaft enthüllte: »eben das Absonderliche […], das Grelle, Bizarre, Groteske, das Dekadente, das fin de siécle, auf das man abzielte und zu dem man sich bekannte« (Halbe 1976: 200). Nach einem Projekt von Ernst von Wollzogen und Ludwig Ganghofer gruppierte sich die geistige Münchner Elite, um den Tod des Naturalismus zu verkünden und an dessen Stelle für einen neuromantischen Kunstsinn zu plädieren 3. Die Inkohärenz zwischen der Trägerschaft und dem Projekt war aber ganz deutlich: Die Ehrenpräsidentschaft der Gesellschaft gehörte Paul Heyse, sowohl Lingg als auch Weltrich galten als Gründungsmitglieder, Otto Julius Bierbaum und Max Halbe waren ordentliche Mitglieder. Die Vertreter der Hofkultur sowie des Naturalismus, zusammen mit anderen Prominenten, hätten einem breiten Publikum durch Lesungen, Vorträge und Theateraufführungen künstlerische Neuorientierungen darbieten sollen, ohne dabei den kommerziellen, unterhaltsamen Aspekt des Projekts zu berücksichtigen. Bemerkenswerterweise wandelte sich die elitäre Kunstidee von Ernst von Wolzogen in Richtung einer Travestie sowohl des Klassizismus als auch des Naturalismus, sie verwandelte sich ins Kabarett.

      Diesbezüglich muss hier ergänzt werden, dass der Gedankenaustausch über die Konturen moderner Theaterästhetik und über die Notwendigkeit einer Theaterreform um 1900 eine der bedeutendsten Thematiken für fast alle Proto-Lerngemeinschaften darstellte und von verschiedenen

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