"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst". Chiara Maria Buglioni

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für die avantgardistischen Künstlerkreise. Darüber hinaus galt die theatralische Aufführung als Kunstform par excellence, um das ganze Volk mit einzubeziehen und das Terrain für eine gesellschaftliche Veränderung zu ebnen. Berücksichtigt man jedoch dieses Element, so gelangt man zu der Feststellung, dass die Münchner Moderne nicht nur von einer »umfassenden Theatralisierung der Kultur« geprägt wurde (13), sondern auch von der Überlagerung von Theatralität und soziopolitischem Engagement, ein Keim der in jeder damaligen CoP steckte. Die wichtigsten Innovationen im Theaterbereich betrafen also einerseits populäre, volkstümliche Theaterformen wie das Kabarett, das Schattenspiel, das Laientheater, die Bauernstücke oder die Passionsspiele, das Naturtheater und den Zirkus, andererseits entdeckten die Theatermenschen die empathische und physische Nähe zum Publikum, ohne auf das Wort zurückgreifen zu müssen, die Stärke des handelnden Körpers, des Raums, der Empfindungskraft, des Gemeinschaftserlebnisses. Um es kurz ausdrücken, die Theaterleute suchten am Anfang des 20. Jahrhunderts nach »Lockerung und Überwindung der überlieferten Formen« der Theatralität, in Richtung einer offeneren, direkteren Konfrontation mit dem Publikum« (Rühle 2007: 154).

      Das prägnanteste Beispiel der Beziehung zwischen Kulturengagement und ästhetischer Reform, die das Münchner Theater außerhalb Bayerns bekannt machte und trotzdem nur kurzlebig war, ist das literarisch-künstlerische Kabarett „Die Elf Scharfrichter“, das nach dem Vorbild des Pariser „Chat Noir“ gegründet wurde. Das Vorbild zeigt sowohl den internationalen Anspruch des Vorhabens als auch die intendierte Popularisierung des Theaterprojekts. Otto Falckenberg nennt das Schwabinger Kabarett »ein Faschingskind«, da das Projekt eigentlich im Karneval zu datieren sei, in dem Künstler und Denker gegen die Lex Heinze kämpften.4 Die erste Libertinage-Welle, die eine massive Mobilisierung von Münchnern in Sachen Kunst sah, ist auf Anfang 1900 datierbar: Dreitausend Menschen, darunter Bierbaum, Conrad, Falckenberg, Halbe, Schaumberger, Hirth, Lenbach, Lips und Ruederer, versammelten sich zum Protest im Bürgerlichen Bräuhaus. „Der Akademisch-Dramatische Verein“ setzte eine Prozession Schwabinger Künstler und Studenten durch die Hauptstraßen und -plätze der Stadt in Bewegung, mit einem satirischen Plakat gegen das Gesetz und mit einem Chor: »Das Lied5 wurde in hektographierten Blättern verkauft. Damals erschien auch Das Buch von der Lex Heinze. Ein Kulturdokument aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts« (Kutscher 1952: 113f.). Kurz danach gründeten Halbe und Hirth den „Goethebund“ zum Schutze freier Kunst und Wissenschaft, der sechstausend Münchner am 22. März 1900 gegen die Lex Heinze im Münchener Kindl-Keller aufbrachte. Im „Goethebund“ schlossen sich nicht nur Künstler und Publizisten, sondern auch Akademiker zusammen. Am 5. April 1900 luden die Liberalen ins Kreuzbräu ein. Am 7. April sprach Sudermann im Münchener Kindl-Keller vor viertausend Zuhörern, die dort vom „Goethebund“ eingeladen worden waren, und schließlich, am 1. Juli, forderte der Bund die gesamte Bevölkerung Münchens zum Eintreten gegen das missliebige Gesetz auf. Was sich in der Stadt ergab, war das Resultat aller Bemühungen seitens künstlerischer Gesellschaften, das Interesse für Kunstproduktion und Kunstfreiheit im Volk hervorzurufen, um dadurch eine erhöhte Aufnahmebereitschaft für ihre Werke zu erreichen.6 Im Reichstag wurde die Änderung des Gesetzes im März 1900 dank einer hinter-den-Kulissen-Arbeit möglich: Die Lex Heinze wurde nur geringfügig gemildert,7 nichtsdestotrotz glaubten Künstler und Intellektuelle, sie hätten durch ihren liberalen Protest politische Entscheidungen beeinflusst und sich mit der Masse in Kontakt gesetzt. An diesem Punkt, erzählt Falckenberg,

      suchten auch wir, die Jugend dieser Kämpfe, unserer Kraft und Leidenschaft eine dauernde, fortwirkende Form zu geben. Der Gedanke des literarischen Kabaretts lag damals in der Luft: […] Stilpe, der Held von Bierbaums Roman, hatte die Idee eines künstlerischen Tingeltangels verkündet; Panizza und andere sie diskutiert; so saßen auch wir, Zeichner und Schriftsteller des „Simplicissimus“, Studenten und Schauspieler vom Akademisch-Dramatischen Verein, junge Maler der Sezession, die Münchner Avantgarde auf allen künstlerischen Gebieten in der „Dichtelei“ zusammen, einer Künstlerkneipe in der Türkenstraße, und berieten, wie ein solches Unternehmen wohl anzufangen wäre. (1944: 106)

      Die Bezeichnung ‚Faschingskind‘ führt ferner die Erwartungen vor Augen, die die Künstler der Schwabinger Bohème gegenüber einem Theater hatten, das Unterhaltungsformen wie Vaudeville oder Singspiel als Köder für eine angemessene Rezeption der modernen Kunst in der Gesellschaft benutzen konnte. Diese Erwartungen hatten sich früher auf das Deutsche Theater konzentriert, das am 26. September 1896 eröffnet worden war: »Das ganze offizielle, künstlerische und literarische München war versammelt und harrte der kommenden Dingen. […] Alle Welt betrachtete die Einweihung des Deutschen Theaters unter der Direktion Meßthaler gleichsam als die Inthronisation der „Moderne“ in München. Aber es sollte anders kommen. Der Verlauf des Abends zeigte, daß Meßthaler höchstens vielleicht ein Johannes war, keinesfalls aber der erwartete Messias selbst« (Halbe 1976: 231). Das Programm war tatsächlich ein Mischmasch, der offensichtlich unter der Idee litt, dass man jeder Art von Zuschauer etwas zur Vergnügung geben musste. Halbe verurteilt: »Die Vielheit und Zwiespältigkeit dieser Genüsse verwirrte und ermüdete das Publikum (die Vorstellung endete erst lange nach Mitternacht) und offenbarte zugleich die mangelnde Eignung des neuen Hauses für das gesprochene Wort« (231f.). Das katastrophale Unternehmen des Deutschen Theaters wurde in kurzer Zeit ins Münchner Mekka der Varietés verwandelt.8 Die Mitglieder des Kollektivs der „Elf Scharfrichter“ nahmen sich daher der Thematik des Kulturengagements durch die Reformierung des Vaudevilles an9 und wählten als Spielort einen kleinen Fecht­raum im rückwärtigen Teil des Gasthauses „Zum Goldenen Hirschen“ (Türkenstraße 28).

      Max Langheinrich entwarf die Innenarchitektur des Theatersaales und stattete den Raum mit einer Guckkastenbühne aus, wobei er danach strebte, eine Intimität zwischen Zuschauern und Darstellern herzustellen: »Mehr als achtzig hatten nicht Platz. Aber etwas mehr als hundert waren immer da« (Blei 2004: 314). Neben der Bühne befand sich ein versenktes Orchester, wie im Festspielhaus Bayreuth und im Prinzregententheater. An den Wänden bemerkte man vor allem die von Wilhelm Hüsgen modellierten Masken der „Elf Scharfrichter“10. Die Eröffnung des Kabaretts fand am 13. April 1901 statt. Die „Elf Scharfrichter“ in München, zusammen mit Ernst von Wolzogens „Überbrettl“ und Max Reinhardts „Schall und Rauch“ in Berlin, machte die Kabarettform in Deutschland bekannt. Die „Elf Scharfrichter“ beschränkten sich »keineswegs auf Parodie und Amüsement« wie die Berliner „Überbrettl“ und „Schall und Rauch“ (Falckenberg 1944: 114) und waren jedenfalls wenig bieder und angepasst an den einschlägigen Publikumsgeschmack, deshalb mussten sie sich stets mit Problemen der Zensur herumschlagen. Man spielte dreimal in der Woche, dann vermutlich allabendlich, und jeden Monat wurde ein neues Programm vorgestellt, zu dessen Premiere regelmäßig auch die Kunstprominenz im Publikum saß. Zuständig für die Auswahl der Texte waren Marc Henry, Leo Greiner, Willy Rath und Otto Falckenberg; Hans Richard war eher als „Kapellmeister“ tätig. Nach dem von Leo Greiner gedichteten und von Weinhöppel komponierten Eröffnungslied bzw. Scharfrichtermarsch folgten Nummern unterschiedlicher Natur aufeinander: Satiren und Parodien, vor allem aus Hanns von Gumppenbergs Teutschem Dichterroß, Sketsche, Gedichte, klassische Lyrik, Lieder, die „erotisch-verruchten“ Chansons und Balladen Wedekinds, Musikstücke, Tanzgroteske, „automatisches Zeichnen“, Einakter und Ein-Satz-Theaterstücke von Bernard, Courteline, Paul Schlesinger, Keyserling, Falckenberg und von Marc Henri selbst, Ausschnitte aus dem zeitgenössischen Avantgardetheater, Schattenspiele, Puppenspiele. Am Ende sangen alle Zuschauer den Schlager Schwalangscher. Der riesige Erfolg des Kabaretts führte zu hochfliegenden Plänen, zu Kämpfen mit der Münchner Zensur, aber auch zu Streitereien unter den Ensemblemitgliedern wegen des Honorars der Stars. Schon im November 1903 spielten die „Elf Scharfrichter“ zum letzten Mal zusammen. Falckenberg behauptet:

      Für mich und die meisten anderen hatte die Sache ihren eigentümlichen romantischen Reiz, ihre innere künstlerische Fruchtbarkeit verloren. […] Zum ersten Male war ich nicht nur sympathisierender Zuschauer und bescheidener Helfer gewesen, sondern Mitspieler und Mitleiter an der Spitze einer gemeinschaftlichen künstlerischen Arbeit lauter junger begabter Menschen, einer Arbeit, die ihren Lohn in sich selbst trug. Denn es wird der Ruhm der „Elf Scharfrichter“ bleiben, daß diese Kleinkunstbühne

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