Geist & Leben 1/2022. Verlag Echter
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Ohne menschliche Nähe und Freundschaft, ohne Berührung verkommen die Menschen emotional: In Folge wendet „der Mensch sein Interesse ab vom Leben, von den Menschen, von der Natur und den Ideen – kurz, von allem, was lebendig ist; er verwandelt alles Leben in Dinge, einschließlich seiner selbst und der Manifestationen seiner menschlichen Fähigkeiten der Vernunft, des Sehens, des Hörens, des Fühlens und Liebens. (…) Der ganze Mensch wird zum Bestandteil der totalen Maschinerie, welche er kontrolliert und die gleichzeitig ihn kontrolliert. Die Welt ist zu einer Welt des ‚Nichtlebendigen‘ geworden; Menschen sind zu ‚Nichtmenschen‘ geworden – eine Welt des Toten.“15 Diese Entfremdung des Menschen von seiner ureigenen Lebendigkeit wird in totalitären Systemen massiv zugespitzt.
Ideologie und Terror
Hannah Arendt spricht im Essay „Ideologie und Terror“ als Spezifikum totaler Herrschaft „die nahtlose Verfugung von Terror und Ideologie“ an, sodass es keinen Raum mehr für Freiheit, Individualität und Empathie geben kann.16 1961 stand Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht, eines der „Ungeheuer“, die für die massenhafte Tötung der Juden verantwortlich waren. Das vermeintliche Ungeheuer stellte sich während des Prozesses als pflichtbewusster Bürokrat dar, der nur die Befehle eines Höheren ausgeführt hatte. Das veranlasste Hannah Arendt, ihrem Prozessbericht den Titel zu geben: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Das Wort von der Banalität des Bösen sollte die Durchschnittlichkeit des Täters bezeichnen; es legte nahe zu sagen: Die große Masse war nicht besser als Eichmann, jederzeit bereit, Gleiches unter gleichen Umständen zu tun. Es war der Sachverhalt des Schreibtischtäters, der kein spezifisches Unrechtsbewusstsein aufzubringen vermochte. In einer technisierten und bürokratisierten Welt wurden der Völkermord und die Ausrottung „überflüssig“ erscheinender Bevölkerungsgruppen geräuschlos und ohne moralische Empörung der Öffentlichkeit zur Gewohnheit. Die Einzigartigkeit des Holocaust erblickte Arendt im Fehlen jeglicher moralischer Dimension und damit in der ausschließlich bürokratischen Natur des Vorgangs. Persönliche und moralische Mediokrität des Angeklagten veranlasst zur Schlussfolgerung, die im Untertitel des Buches aufgenommen ist: Banalität des Bösen. Eichmann hat sich nie vorgestellt, was er eigentlich anstellt. Seine Handlungen und Entscheidungen waren banal, gedankenlos, vordergründig ohne teuflisch dämonische Tiefe. „Dass eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten können als alle die dem Menschen vielleicht innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen konnte.“17 Eichmann entschuldigt sich damit, dass er nicht als Mensch, sondern als bloßer Funktionär gehandelt habe.
Hannah Arendt kritisiert die Dominanz der Statistik und der Zahlen in unserem Zugang zur Wirklichkeit. Wenn Gleichheit und Symmetrie herrschen, steht das Fremde unter dem Vorzeichen der Negation. Die Wahrnehmung des Anderen geschieht unter der Perspektive der Verdächtigung, Anfeindung, Ablehnung, Verurteilung oder Unterwerfung. Die abstrakte Immunisierung des Subjekts von der geschichtlichen Realität und dabei von der Begegnung mit dem konkret Anderen landet in ideologischer Verblendung.
Compassion
Für Papst Franziskus gehört eine elementare Leidempfindlichkeit und Leidenschaft für die Mitwelt zum Humanum.18 Johann B. Metz sieht in der Gerechtigkeit suchenden Compassion ein Schlüsselwort im Zeitalter der Globalisierung. Compassion ist angebracht angesichts der politischen, sozialen und kulturellen Konflikte in der heutigen Welt. Fremdes Leid wahrzunehmen gehört zur Friedenspolitik, zur sozialen Solidarität hinsichtlich des eskalierenden Risses zwischen Arm und Reich. Freiheit ohne Mitleid, ohne Empathie wird zur Tyrannei, Mitleid ohne Macht zur Verdoppelung des Unglücks. Es geht um Empathie, Einfühlungsvermögen und Offenheit, die auch an den Leiden, Ängsten und dem Versagen des Anderen teilnehmen kann.
Allerdings: Manchmal dienen Trauer, Betroffenheit und Leidensdruck nicht nur der Anteilnahme, sondern auch Strategien der Immunisierung eigener Interessen und der Distanzierung von Ansprüchen. In den zwischenmenschlichen Bereichen ist zunehmend eine Teilnahmslosigkeit und Interesselosigkeit zu bemerken, Berührungstabus gegenüber allem, was nach Schmerz, Leid, Trauer, Krankheit, Alter und Tod riecht. Gegen Tränen, die geweint werden müssten, gibt es Tabletten. Gefühlsstimulierungen werden in den Konsumbereich hineinverlagert. Die „Unfähigkeit zu trauern“ (A. Mitscherlich) geht Hand in Hand mit dem Verlust an Sehnsucht und führt zur Reduktion des Menschen auf seine Bedürfnisse und Funktionen. Die Gesellschaft wird zur Erfolgs- und Siegergesellschaft, die in den menschlichen Kontakten verarmt. Letztlich wird die Verdrängung von Trauer mit einem Wirklichkeitsverlust erkauft. Die Tiefen und Abgründe werden dann nicht mehr berührt, in oberflächlichen Beziehungen werden keine Spannungen mehr ausgehalten. Eine falsche Indifferenz erklärt Leid, Mitleid und Trauer als Schwächen einer noch nicht zur Reife gelangten menschlichen Natur.
Johann B. Metz spricht sich gegen Trauer- und Melancholieverbote in der Arbeits-, Leistungs- und Siegergesellschaft aus: „Trauer ist kein Schwächeanfall der Hoffnung, es sei denn, man missverstehe die Hoffnung als eine Spielart von pausbäckigem Optimismus. Trauer ist Hoffnung im Widerstand (…) im Widerstand gegen das Vergessen und gegen jenes Vergessen des Vergessens, das bei uns den Namen ‚Fortschritt‘ und ‚Entwicklung‘ trägt; im Widerstand gegen den Versuch, alles Entschwundene und unwiederbringlich Vergangene zum existentiell Bedeutungslosen herabzustufen, also im Widerstand gegen den Versuch, dem Wissen des Menschen um sich selbst das Vermissen auszutreiben.“19 Bei der Trauer geht es um die Empfänglichkeit für die vergangenen Leiden, also um eine Solidarität nach rückwärts mit den Toten und Besiegten.20
Ethik der Sinne und der Berührung
Papst Franziskus macht darauf aufmerksam, „dass auch dem Spüren und den Sinnen eine eigene Würde und Bedeutung zu eigen ist.“ Er will „Denken und Spüren aufeinander bezogen wissen, denn ohne Gespür könnte das Denken und auch die Vernunft kalt und herzlos werden. Wir können Freude und Barmherzigkeit unterschiedlich verstehen, aber wenn wir sie nicht leibhaftig und das heißt eben auch körperlich erfahren haben, bleiben diese Begriffe hohl und leer.“21 Und so betont er: „Eine Kirche, die Mutter ist, geht auf dem Weg der Zärtlichkeit. Sie kennt die Sprache der großen Weisheit der Liebkosungen, der Stille, des Blicks, der Mitleid, der Stille zum Ausdruck bringt. Und auch eine Seele, eine Person, die diese Zugehörigkeit zur Kirche in dem Wissen lebt, dass sie auch Mutter ist, muss auf demselben Weg gehen: ein sanfter, zärtlicher, lächelnder Mensch voller Liebe.“22
Der Soziologe Hartmut Rosa23 hat die „Resonanz“ als wesentliche Kategorie unseres Zugangs zur Welt herausgearbeitet. Resonanzbeziehungen sind das Suchen und Finden von „Widerhall“ in der Welt, aber auch in den Herzen der Menschen. Resonanzbeziehungen bedeuten ein wechselseitiges Berühren und Berührtwerden. Allen Resonanzerfahrungen wohnt – so Rosa – ein unaufhebbares Moment der Unverfügbarkeit inne. Wenn man diese Beziehungen zu kontrollieren oder über sie zu verfügen sucht, zerstört man sie.
Dimensionen von Zärtlichkeit
Papst Franziskus spricht in seiner Enzyklika Laudato sí von einer universalen Gemeinschaft und Geschwisterlichkeit. Gleichgültigkeit oder Grausamkeit gegenüber den anderen Geschöpfen dieser Welt spiegeln viel von dem wider, wie wir die anderen Menschen behandeln. Die „gleiche Erbärmlichkeit, die dazu führt, ein Tier zu misshandeln, zeigt sich unverzüglich auch in der Beziehung zu anderen Menschen. Jegliche Grausamkeit gegenüber irgendeinem Geschöpf widerspricht der Würde