Geist & Leben 1/2022. Verlag Echter
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Ignatius von Loyola: Erfahrungen und Reflexionen
Ein oberflächlicher Blick in das Exerzitienbuch und in die darauf aufbauende Ordensregel der Jesuiten – die Konstitutionen – scheint nicht viele Erkenntnisse zu zölibatärer Sexualität und Spiritualität zu bieten. Im Exerzitienbuch kommt „zölibatäre Sexualität“ explizit überhaupt nicht vor. In den Konstitutionen sagt Ignatius, dass das Gelübde der Keuschheit „keine Deutung erfordert, da feststeht, wie vollkommen sie beobachtet werden muss, indem man sich bemüht, in ihr durch die Reinheit des Leibes und des Geistes die Lauterkeit der Engel nachzuahmen“.3 „Der Satz klingt merkwürdig, weil Engel ja keinen Leib haben, der doch offenkundig bei der Sexualität eine nicht unwichtige Rolle spielt“, bemerkt Vitus Seibel dazu.4 Erst die 34. Generalkongregation der Jesuiten im Jahre 1995 hat in ihrem Dekret über die Keuschheit differenzierte Leitlinien zu verschiedenen Aspekten entwickelt.
Nun kann man sicher darüber spekulieren, warum Ignatius sich so kurzgefasst hat und welche Rücksichten oder innerpsychischen Abwehrmechanismen ihn dabei geleitet haben mögen. In jungen Jahren war er ein Sportfanatiker und Frauenheld. Gerichtsakten sprechen von „sehr großen Vergehen, nächtlichem Unfug, bestimmten Verbrechen, absichtlich und heimtückisch begangen“.5 Seine Gefährten haben nicht verschwiegen, dass der junge Iñigo „versucht und besiegt wurde“.6 Zudem wird in der heutigen Ignatiusforschung diskutiert, ob Ignatius der leibliche Vater einer Tochter Maria Villarreal de Loyola gewesen ist.7 Jedenfalls kannte er aus eigener Erfahrung die Dynamiken männlicher Sexualität einschließlich ihrer zerstörerischen Potentiale.
Weitere Spekulationen mögen vielleicht den eigenen Voyeurismus befriedigen, führen aber in der Fragestellung nicht weiter. Aus der ignatianischen Spiritualität scheint mir stattdessen für das äußere Verhalten wie für die innere Einstellung die geistliche Übung der „dritten Weise der Demut“ hilfreich und weiterführend zu sein. Sie steht im Exerzitienbuch in der so genannten „zweiten Woche“, in der es um die Nachfolge Christi geht.
Hinweise aus dem Exerzitienbuch
Gewiss verläuft für jeden Menschen, der ignatianische Exerzitien macht, der individuelle spirituelle Weg einmalig und einzigartig. Es geht gerade darum, sich nicht einem vorgegebenen Weg oder einem zu erreichenden Ziel zu unterwerfen, sondern den eigenen Weg zu suchen und zu finden. Mit dieser Vorbemerkung lassen sich die geistlichen Wachstumsschritte für die erste und die zweite Phase („Woche“) der ignatianischen Exerzitien so beschreiben: Auf (m)einem Exerzitienweg beginne ich, Geschmack am Glauben zu finden. Ich spüre Mut, Trost und Freude daran, mich auf einen Weg mit Gott einzulassen und die eigene „Komfortzone“ dafür zu verlassen. In der ersten Phase – Ignatius nennt es die „erste Woche“ – darf ich dankbar erkennen und erfassen: Ich habe bereits einen gnädigen Gott und muss ihn nicht erst suchen oder gnädig stimmen. Er steht auf meiner Seite und will mir wohl. Ich entdecke auch meine Schattenseiten und ich entdecke, dass sie von Gott unterfangen sind. Ich widerstehe der Versuchung, dass an meinen Begrenzungen immer „die anderen schuld sind“ und übernehme Verantwortung für mich und mein Handeln.
Auf dieser Basis will ich in der „zweiten Woche“ meine Christus-Beziehung vertiefen, statt falsche Kompromisse zu schließen und zu stagnieren. Ich suche und vertiefe sehr bewusst meine Berufung als Mensch und als Christ. Ich will mich in die Nachfolge Jesu begeben und ihm ganz bewusst nicht nur um seiner angenehmen Aspekte willen nachfolgen, sondern auch in eine Schicksalsgemeinschaft mit ihm eintreten – selbst da, wo es schwierig wird und keinen „Spaß macht“. Sehr nüchtern und realistisch sagt Ignatius dazu: Solange jemand mit der Dynamik der ersten Woche zu tun hat, wären Dynamiken der zweiten Woche „Dinge, die er nicht ohne Überspannung seiner Kräfte zu tragen und aus denen er keinen Nutzen zu ziehen vermag“ (GÜ 18).
Für den inneren Weg dieser zweiten Exerzitienphase legt Ignatius die geistliche Übung der „drei Weisen der Demut“ vor. Er erklärt zunächst, was er mit den ersten beiden Weisen der Demut meint, die sich an „Gott unseren Herrn“ richten. In der klassischen Ausdrucksweise seiner Zeit formuliert er: Ich möge Gott um seine Hilfe dafür bitten, dass ich keine Todsünde (erste Weise der Demut) und auch keine „lässliche Sünde“ (zweite Weise der Demut) begehe. Dann sagt er zur dritten Weise der Demut, die sich an Christus richtet: „Die dritte ist vollkommenste Demut, nämlich wenn ich, unter Einschluss der ersten und zweiten, wenn der Lobpreis und die Ehre der göttlichen Majestät gleich ist, um Christus, unseren Herrn, nachzuahmen und ihm aktualer ähnlich zu sein, mehr mit dem armen Christus Armut will und erwähle als Reichtum, Schmähungen mit dem davon erfüllten Christus mehr als Ehren, und mehr zu wünschen, als nichtig und töricht um Christi willen angesehen zu werden, der als erster dafür gehalten wurde, denn als weise und klug in dieser Welt“ (GÜ 167).
L(i)eben lernen
Das würde in heutiger Sprache für einen ignatianischen spirituellen Lebensweg heißen: Authentisch zölibatär lebende Priester erkennen die Versuchung und widerstehen ihr, vor sich selbst und anderen mit vielen Energien eine äußere Fassade aufrechtzuerhalten oder ein Doppelleben zu führen oder falsche Kompromisse und Kompensationen zu suchen. Sie arbeiten stattdessen kreativ daran, immer mehr das eigene Lebenskonzept zu realisieren, „das Gott unser Herr uns schenkt, um es zu erwählen“ (GÜ 135). Sie verstehen ihre jeweils einmalige Berufung als Geschenk Gottes an sich. Sie erfahren immer mehr, dass und wie die göttliche Initiative für ihr Leben ihrem menschlichen Handeln vorangeht. Sie glauben und hoffen, dass sie auch menschlich nicht „zu kurz kommen“, wenn sie ihr Leben in Demut in den Dienst Christi stellen.
Als äußeres Beispiel dafür kann das Gelübderitual bei der Feier der ewigen Profess im Jesuitenorden dienen, das diese Sichtweise sehr eindrucksvoll betont. Die Gelübdeformel mit dem Versprechen zölibatärer Keuschheit wird vor dem Kommunionempfang „super hostiam“ gesprochen, nicht vor der Gabenbereitung, was eher auf das eigene menschliche Tun hinweist. Wenn jemand meint, für Gott und für seinen spirituellen Weg immer wieder neue Opfer bringen und von anderen verlangen zu müssen, dann kann ein solches Leben letztlich nur scheitern. Jüngst fielen charismatische, anerkannte und autorisierte Priester-Gründergestalten geistlicher Bewegungen wegen schwerer Verfehlungen in ihrem sexuellen Verhalten aus einer teils grenzenlosen Bewunderung heraus. Die Zuschreibung, dass sie jederzeit und vollkommen das Gelübde zölibatärer Keuschheit gehalten hätten, erweist sich als völlig verfehlt. Vielmehr wird deutlich, dass es sowohl unehrlich als auch gefährlich ist, „unsere Sexualität unter Schutzkleidung zu verbergen oder sie wie einen Kernreaktor unter einer Betondecke zu begraben.“8
Was sind tieferliegende Ursachen? Eckhard Frick untersucht die Wirkungsgeschichte des „engelsgleichen Jünglings“ und Heiligen Aloisius Gonzaga9 und kommt zu dem Ergebnis: In der Aloisius-Hagiografie bündelten sich die Motive Engel – Reinheit – Keuschheit. Die asexuelle „Unschuld“ des heiligen Aloisius wird im Kontrast zur übersexualisierten Umwelt des höfischen Lebens gesehen und der Heilige den Betern als Vorbild und Kontrast vor Augen gestellt: „Psychoanalytisch gesprochen, wurde mit dem hagiografierten Aloisius der Typos eines ewigen Latenzzeitkindes geschaffen, der das ödipale Zündeln und Rivalisieren mit dem Vater hinter sich gelassen hat und sich durch zwanghaftes Festhalten an der Kindheit des Leibes und der Seele weigert, in die Pubertät zu kommen, durch Selbstkasteiung, Intellektualisierung, religiöse Schwärmerei. Jungianisch gesprochen: ein mutterfixierter Puer aeternus, der jede Festlegung vermeidet, die Großartigkeit und Altklugkeit des Kindes wahrt und damit auch die unvermeidliche Auseinandersetzung mit Sexualität, Älterwerden, Chance und Krise von Beziehungen.“10
Aber wenn nicht so, wie dann? Wenn