Geist & Leben 1/2022. Verlag Echter
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Ihren zentralen Ort hat die Zärtlichkeit für Papst Franziskus in der interpersonalen Liebe. Vor allen kasuistischen Fragen des Sollens, Müssens oder Nicht-Dürfens steht im nachsynodalen Schreiben Amoris laetitia24 die Zärtlichkeit im Fokus: „Liebe ist (…) Respekt: Liebe hütet das Bild des/der anderen mit Feingefühl.“ (AL 122) Liebe wird geradezu durch respektvolle Zärtlichkeit charakterisiert (vgl. AL 283). „Am Horizont der Liebe, die in der christlichen Erfahrung der Ehe und der Familie im Mittelpunkt steht, zeichnet sich auch noch eine andere Tugend ab, die in diesen Zeiten hektischer und oberflächlicher Beziehungen etwas ausgeklammert wird: die Zärtlichkeit.“ (AL 28) Mit Ps 131; Ex 4,22; Jes 49,15 und Ps 27,10 beschreibt der Papst die Verbindung zwischen Gott und Mensch mit Wesenszügen der Vater- oder der Mutterliebe. Es ist „die zarte und sanfte Vertrautheit, die zwischen der Mutter und ihrem Kind, einem Neugeborenen, besteht, das in den Armen seiner Mutter schläft, nachdem es gestillt worden ist.“ (ebd.) Der Prophet Hosea legt Gott als Vater die bewegenden Worte in den Mund: „Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb (…). Ich war es, der Efraim gehen lehrte, ich nahm ihn bei der Hand (…). Mit menschlichen Fesseln zog ich sie an mich, mit den Ketten der Liebe. Ich war da für sie wie die [Eltern], die den Säugling an ihre Wangen heben. Ich neigte mich ihm zu und gab ihm zu essen (11,1.3–4).“ (vgl. ebd.)
Überraschend situiert Papst Franziskus die Zärtlichkeit auch in der Politik: Es geht um eine universale Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft, um eine Liebe, die nah und konkret ist. „Auch in der Politik gibt es Raum, um mit Zärtlichkeit zu lieben. ‚Was ist die Zärtlichkeit? Sie ist die Liebe, die nah und konkret wird. Sie ist eine Bewegung, die vom Herzen ausgeht und zu den Augen, den Ohren, den Händen gelangt. (…) Die Zärtlichkeit ist der Weg, den die mutigsten Männer und Frauen beschritten haben.‘ Inmitten der politischen Tätigkeit ‚müssen die Bedürftigen, die Schwachen, die Armen unser Herz berühren: Sie haben das Recht, uns die Seele und das Herz zu nehmen. Ja, sie sind unsere Brüder, und als solche müssen wir sie lieben und behandeln.‘“25
Weil du mich anschaust und liebst, deshalb bin ich
Wie werden wir angeschaut? Wie blicken wir einander an? Mit Blicken sagen wir uns sehr viel: Zuneigung, Verliebt-Sein, Verachtung, Gleichgültigkeit. Wenn Blicke töten könnten…
Im Bernardisaal des Stiftes Schlierbach in Oberösterreich gibt es die Darstellung eines „Allbeobachters“, d.h. der/die Betrachter(in) wird vom Auge dieses Beobachters, der auch noch ein Fernrohr hat, angeschaut, wohin immer er/sie sich im Raum bewegt. Der „Allbeobachter“ kontrolliert, überprüft, ihm entgeht nichts, er schaut nie woanders hin oder einfach weg. Es kann tiefe Verstörung auslösen, unter ständiger Beobachtung zu stehen.
Im Gegensatz dazu trägt der liebende Blick Gottes im christlichen Verständnis die unmittelbar liebende Wertschätzung des Menschen in sich. Ähnlich wie in Schlierbach findet sich in der Turmkapelle des Brixener Doms in Südtirol ein Fresko eines „allsehenden Christus“. Wohin immer sich der Betrachter in der Turmkapelle bewegt, er wird von Christus angesehen. Im Menschen Jesus Christus wird das Antlitz Gottes sichtbar. Nikolaus Cusanus schreibt im 15. Jahrhundert zum „allsehenden Christus“: „Dein Sehen, Herr, ist Lieben, und wie dein Blick mich aufmerksam betrachtet, dass er sich nie abwendet, so auch deine Liebe. Soweit du mit mir bist, soweit bin ich. Und da dein Sehen dein Sein ist, bin ich also, weil du mich anblickst. Indem du mich ansiehst, lässt du, der verborgene Gott, dich von mir erblicken. Und nichts anderes ist dein Sehen als lebendig machen.“26
*Vortrag beim Tag der Linzer Hochschulen am 21. Oktober 2020.
1K. Wecker, Es geht zu Ende, in: Wut und Zärtlichkeit (Studioalbum). Sturm und Klang Musikverlag. München 2011.
2Aristoteles, Über die Seele II, 9, 421a, in: ders., Über die Seele. Nach einer Übersetzung v. W. Theiler bearbeitet v. H. Seidl (Philosophische Schriften, 6). Hamburg 1995.
3I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht (WW in 10 Bänden, hrsg. v. W. Weischedel, Bd. 10/2: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik). Darmstadt 1983, 453.
4I. Kant, Über Pädagogik (WW in 10 Bänden, hrsg. v. W. Weischedel, Bd. 10/2: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik). Darmstadt 1983, 691–761.
5I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (WW 7), 698 (B 54, A 50), 702 (B 60, A 56).
6T. W. Adorno, Stichworte. Frankfurt a.M. 1969, 99.
7Vgl. dazu K. Füssel, Der imaginäre Andere. Ideologiekritische Beobachtungen zur Intersubjektivität, in: H. U. v. Brachel / N. Mette (Hrsg.), Kommunikation und Solidarität. Freiburg/CH – Münster 1985, 101–116.
8T. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (GW 4, hrsg. v. R. Tieddemann). Darmstadt 1998, 113f.
9Ebd., 85.
10 Ebd., 98.
11 Ebd., 213f.
12 F. Ulrich, Sprache der Begierde und Zeitgestalten des Idols, in: B. Casper (Hrsg.), Phänomenologie des Idols. Freiburg i.Br. – München 1981, 133–269, hier: 193.
13 A. Delp, Gesammelte Schriften. Bd. 3: Predigten und Ansprachen. Frankfurt a.M. 1983, 319ff.
14 Vgl. A. Gehlen, Anthropologische und soziale Überlegungen zum Problem der Autorität, in: ders., Gesamtausgabe. Bd. 7. Hrsg. v. K.-S. Rehberg. Frankfurt a.M. 1978, 486.
15 E. Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität, in: ders., Gesamtausgabe VII (GA in 12 Bänden, hrsg. v. R. Funk). München 1999, 318.
16 H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt a.M. 1955.