75 – oder mit skeptisch fragendem Blick, als misstraue er seinem Gegenüber 2. Dem stehen die Darstellungen gegenüber, in denen er sich mehr oder weniger in seiner Tätigkeit als Maler präsentiert 3/78 f. In seinem Selbstbildnis mit Tube und SchutzhelmS. 77 posiert er 1984 vor der Staffelei stehend als Arbeiter-Maler mit nacktem Oberkörper und Bauhelm auf dem Kopf, die Palette mit aufkaschierter Farbtube in der Hand. Es ist eines der wenigen repräsentativ zu nennenden Selbstbildnisse des Künstlers, die etwas von seinem Anspruch und Selbstverständnis verraten. Ganz dezidiert als Maler zeigt er sich 1981 in seinem Selbstbildnis mit PinselnS. 78. Im Jahr seiner Emeritierung, 1986, schuf Sitte noch einmal ein eindrucksvolles Werk S. 79. Wieder zeigt er sich mit freiem Oberkörper, der durch die besondere Lichtführung gleichsam metallisch glänzt wie eine Skulptur. Der Künstler steht vor der Staffelei, die Pinsel in der Hand, und blickt prüfend auf den Betrachter. Im Hintergrund ist ein zweites Mal das Gesicht des Malers zu sehen, diesmal beim Rauchen einer Zigarre und gelassen sich selbst über die Schulter schauend. Diese simultane Darstellung derselben Figur in verschiedenen Posen ist ein typisches Gestaltungsmerkmal nicht nur in den Selbstbildnissen Willi Sittes.
3 Willi Sitte: Selbstbildnis „Der Einäugige“, 1983, Öl auf Hartfaser, 69 × 56 cm, Kunstforum Ostdeutsche Galerie, Regensburg
4 Willi Sitte: Selbstbildnis mit Rückenakt, 1984/85, Öl auf Hartfaser, 119 × 71,5 cm, Brandenburgisches Landesmuseum für moderne Kunst
Eine besondere Gestaltungsweise der Selbstdarstellungen Sittes sind die Kombinationen mit Liebespaaren. Wiederholt stellte er sich mehr oder weniger voyeuristisch zusammen mit sich liebenden Paaren dar. Den Ursprung hat dieser Typus im Selbstbildnis mit Rückenakt 4 von 1984/85, mit dem er sein eigenes Konterfei in den Kontext von Eros und Thanatos bringt. Deutlich stärker kommt dies zum Tragen u. a. im Liebespaar mit Selbstbildnis von 1983 S. 461.10 Das Bild wird formatfüllend dominiert von einem sich küssenden nackten Paar. Im Hintergrund links taucht aus einer fensterartigen Nische das fast stoisch wirkende Bildnis des Malers auf. Bedrohlich prangt über ihm eine sich schwarz verfinsternde Sonne – ein Motiv, das in Sittes Strandbildern wiederholt vorkommt.
5 Willi Sitte: Selbstbildnis mit Totenkopf, 1990, Öl auf Hartfaser, 125 × 75,5 cm, Privatsammlung
6 Willi Sitte: Selbstbildnis mit Pinseln, 1992, Öl auf Hartfaser, 125 × 74,5 cm, Verbleib unbekannt
Das eigentliche Selbstporträtschaffen Sittes setzte mit der politischen Wende 1989/90 ein. Die für den 70-jährigen Ruheständler existenziell sich darstellenden „Wendejahre“ bewirkten eine nun erstmals intensive künstlerische Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich. Sein jahrzehntelanger mit ihm befreundeter wissenschaftlicher Wegbegleiter Wolfgang Hütt formulierte es wie folgt: „Um so [sic!] schwerer traf ihn die vollständige Auflösung des sozialistisch genannt gewesenen Weltlagers. Seine Selbstbildnisse bezeugen das für ihn Schmerzhafte an diesem Prozeß, das Empfinden eines um gehegte Erwartungen Betrogenen. Wenig Aufschlüsse vermitteln sie über mögliche, seit dem Umbruch gewonnene Einsichten, über das Erkennen einer Schuld, die durch das Verdrängen eigener Kritikfähigkeit entstand, durch das Teilhaben an der zuletzt nur auf brüchigem Boden noch stehenden Macht. Wie selbstbewußt und zukunftssicher hatte Sitte bis zu den achtziger Jahren des Jahrhunderts hin das eigene Konterfei erforscht und gemalt!“11
Das Gros seiner Selbstbildnisse entsteht in den 1990er Jahren. Nahezu notorisch befragte Sitte sein Spiegelbild – Ausdruck der extremen Verunsicherung, die die von zahlreichen, heftigen Angriffen gegen seine Person gekennzeichneten Jahre prägte. Zum bisherigen Typus des skeptisch fragend schauenden Künstlers kommen nun verstärkt die Darstellungen mit Todesallusionen wie beim Selbstbildnis mit Totenkopf von 1990 5. Mit seiner Linken umfasst der Maler den Schädel so, dass der Eindruck entsteht, als hielte er ihm abwehrend, bannend die Augen zu. Ein Bedrohtsein vermittelt auch das Selbstbildnis mit Pinseln von 1992 6, auf dem ein markanter Schatten hinter der Figur des Malers prangt – ein Motiv, das Sitte in den 1990er Jahren des Öfteren nutzte, wenn es um die Schatten der Vergangenheit oder die Bedrohung der Existenz geht (vgl. S. 510), hier ins Persönliche gewendet. Eine ähnliche Stimmung vermittelt das Gemälde Selbst mit Schrei 7, in dem hinter dem Bildnis des Malers ein aggressiv zum Schrei geöffneter Mund eines angeschnittenen Gesichts prangt. Dem steht das trotz des Titels wenig Positives verheißende Selbst mit ZukunftS. 81 von 1992 gegenüber. Der Zierrahmen des Gemäldes fungiert gleichzeitig als Fensterrahmen, dessen gläserner Flügel in das Bildinnere aufgeschlagen ist und den Kopf des Malers freigibt, der in Sittes charakteristischer En-face-Haltung gezeigt wird. Neben ihm im Glas der Fensterscheibe erscheint auf Augenhöhe die Darstellung eines Totenschädels – eine Anspielung auf den Bildtitel und den ungewissen Zeitpunkt des Todes.
7 Willi Sitte: Selbst mit Schrei, 1992, Öl auf Karton, 61 × 54 cm, Privatsammlung
Im Folgejahr, 1993, entstanden die Gedanken eines ehemaligen FormalistenS. 82. Dieses Selbstbildnis ist für die 1990er Jahre ebenso essenziell wie existenziell. Sitte spielt hier sowohl in der Darstellung selbst als auch im Werktitel mit seiner eigenen künstlerischen Vergangenheit. In der linken Bildhälfte zeigt er sein Porträt in der bekannten Haltung, verschattet liegt sein Gesicht, nur angedeutet, skizziert ist das Dekorum, einzig der Kopf selbst ist detaillierter ausgearbeitet. Durch eine hellgraue Vertikale getrennt, erscheint in der rechten Bildhälfte eine Komposition, die entfernt an Sittes Malereien auf Henning-Kartons der frühen 1950er Jahre erinnert.12 Für Arbeiten in diesem der Moderne verpflichteten Stil wurde er jahrelang als Formalist diffamiert