Einführung in systemische Konzepte der Selbststeuerung. Andreas Kannicht
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1.2.2 Die fünfte Dimension – Steuerung
Um die Gesamtsicht auf die sich weiter und weiter verzweigende systemische Bewegung zu erhalten, benötigen wir noch eine fünfte Dimension. Sie wurde insbesondere vor dem Hintergrund der Übertragung systemischer Konzepte auf den Kontext von Organisationsberatung, Teamentwicklung und Coaching erarbeitet. Schmid (1992) nannte sie »Metakonzepte« bzw. »Selbststeuerungskonzepte«. Sie wurden bislang nur unsystematisch in die systemische Theoriebildung integriert. Dies systematischer anzugehen ist das Anliegen dieses Buches. Zunächst können Metakonzepte für den Praktiker nicht so wichtig oder nicht leicht zugänglich erscheinen, wirken sie doch auf den ersten Blick recht abstrakt. Doch halten wir dem das Bonmot von Kurt Lewin entgegen: »Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie!« Steuerungskonzepte haben sich in unzähligen Supervisionen und Falldiskussionen als ordnende Kraft bewährt. Wichtig ist, sich mit ihnen so auseinanderzusetzen, dass sie in die professionelle Intuition übergehen. Am besten nähert man sich dem Verständnis von Steuerungskonzepten daher durch eine Metapher:
Wenn ein Künstler ein Bild malen möchte, braucht er Wissen über Techniken. Wie geht man mit dem Pinsel um? Welche Farben (Aquarell, Öl, Acryl …) gibt es, und wie wende ich sie an? Welche Untergründe muss man wie bearbeiten? Wie erzeuge ich Licht und Schatten? Wie teile ich ein Bild auf, welche Ausschnitte wähle ich …? Aber alle diese Fertigkeiten machen ihn noch nicht zum Künstler. Wenn er zusätzlich Wissen über Kunstgeschichte hat, über Kulturepochen und Stilrichtungen, hilft ihm dies auf seinem Weg. Aber auch dies gibt ihm keine Orientierung, wenn er vor der weißen Leinwand steht. Gut ist es, wenn er sich auf das Malen einstimmt, sich sammelt, nicht aus der Hektik des Alltags oder mit den Gedanken an den nächsten Hausputz an die Arbeit macht. Aber wie soll er nun anfangen, welche Farbe, welches Motiv, welche Technik einsetzen? Zu groß ist die Anzahl der Möglichkeiten, und mit dem ersten Strich sind schon Vorgaben gesetzt. Was er zusätzlich benötigt, ist eine Idee von dem, was er ausdrücken möchte, und die Bereitschaft, sich dann von dem Prozess des künstlerischen Gestaltens leiten zu lassen. Diese innere Suche nach dem Motiv und nach der damit zusammenhängenden sinnvoll auszuwählenden Technik, dieses Erspüren dessen, welche Striche Sinn erzeugen und welche übermalt werden sollten, dieses Fokussieren und Wiederloslassen von Fokussierungen – das kann als Selbststeuerung verstanden werden.
Übertragen wir diese Metapher auf den beraterischen Prozess, so wird deutlich, dass wir als systemische Berater gut daran tun, die Techniken zu erlernen und zu üben. Wir werden auch sicherer, wenn wir nützliche Haltungen dem Klienten gegenüber einnehmen. Und wir profitieren davon, wenn wir uns kundig gemacht haben, wie Systemtheorie Wirklichkeitsphänomene als rekursiv und kontextbezogen begreift, wie der radikale Konstruktivismus von Perspektivenvielfalt ausgeht, wie das Anerkennen der Eigengesetzlichkeit lebender Systeme die Möglichkeit von instruktiver Interaktion infrage stellt. Dies alles hilft mir als Berater, und doch stellt sich die Frage, wann ich welche Technik einsetze, wann welche der Haltungen, wann welche der vielen möglichen Wirklichkeitskonstruktionen nützlich sind. An dieser Frage setzen die Steuerungskonzepte an. Bateson sagte, die Kategorie »Stuhl« sei kein weiterer Stuhl. Techniken geben Orientierung im praktischen Vorgehen, erklären aber nicht aus sich heraus, wann ihr Einsatz sinnvoll ist. Um die Frage zu entscheiden, wann ich welche Technik einsetze, brauche ich Konzepte auf einer logisch nächsthöheren Stufe.
Insofern bieten Steuerungskonzepte keine weiteren Techniken, sondern sie sind Metakonzepte für das Navigieren in komplexen Beratungsprozessen. Sie sind abstrakt, da sie nicht beantworten, wie ich in der Beratung konkret vorgehe. Sie helfen aber, die Frage zu beantworten, welche Wirklichkeitsbeschreibungen und Techniken wann sinnvoll eingesetzt werden können. Zugleich verdeutlichen sie, welche Wirklichkeitsvorstellungen mit welcher Technik implizit eingeführt werden und welche Konsequenzen dies haben kann. Sie können Orientierung anbieten angesichts der überwältigenden Komplexität und Möglichkeiten, die sich in Beratungsprozessen ergeben. So helfen sie, einerseits Komplexität zu reduzieren, wo wir in Orientierungslosigkeit versinken würden, und andererseits Komplexität in Situationen zu erhöhen, in denen wir sonst Scheuklappen aufhätten. Deshalb beinhalten viele dieser Konzepte eine Auswahl von Perspektiven. Welche Perspektive nehme ich gerade ein? Habe ich überhaupt eine Perspektive? Welche anderen Perspektiven könnte es noch geben? Welche der möglichen Perspektiven koppelt bei dem Klienten an? Welche ergibt für mich als Berater am meisten Sinn? Habe ich gewohnheitsmäßige Perspektiven, bei denen ich typischerweise lande? Wie kann ich sie wieder verlassen?
In diesem Buch wird eine Vielzahl solcher Metakonzepte beschrieben. Diese Konzepte nähren schöpferische Beraterkraft auf sinnvolle, rationale Art. Sie sollen aber nicht eine zweite Quelle unserer schöpferischen Beraterkraft, die kreative Inspiration, vergessen machen. Deshalb fügen wir zunächst einen Abschnitt über Intuition an. Die Kraft der Intuition wird im Verständnis der Steuerungskonzepte gleichsam als Pendant zur Kraft der rationalen Metatheorie verstanden. Erspüren und Denken sind in diesem Konzept kein Widerspruch, sondern hilfreiche Ergänzungen.
1.3 Intuition und Selbststeuerung
Jeder Klient ruft durch seine Selbstpräsentation und durch die von ihm erzählte Geschichte zwangsläufig innere Bilder beim Berater hervor. Genau genommen, können wir Wirklichkeiten von Klienten gar nicht getrennt, sondern nur in Vermengung mit unseren eigenen Wirklichkeitsbildern wahrnehmen: eine Mischung aus Wahrnehmung und »Wahrgebung«, wie dies Gunther Schmidt ausdrückt. Die Wirklichkeitsbilder des Beraters wecken oft unbemerkt bestimmte Perspektiven, mit denen er dann auf die Beratung schaut. Aber auch vorgegebene, vielleicht gewohnheitsmäßige Perspektiven rufen unbemerkt die zu ihnen passenden inneren Bilder aller Beteiligten auf den Plan. Daher ist wichtig, sich innerer Bilder und gerade aktiver Perspektiven bewusst zu werden.
In der Beratung zu einem Führungskonflikt zeigt sich der Vorgesetzte recht engagiert, aber auch rigide, während der Mitarbeiter sich einerseits um Erfüllung der Aufträge bemüht, andererseits auch merkwürdig vermeidend wirkt. Spontan entsteht eine Beratungswirklichkeit, die sich um Klärung unterschwelliger Motivationen in dieser Beziehung dreht. Der Berater ist auf Beziehungsaufrichtigkeit, gegenseitige Würdigung sowie auf Klarheit in der Sache und auf Ausgleich bedacht.
Im Hintergrund solcher Bildercollagen wirken persönliche Erfahrungen des Beraters in allen Lebensbereichen und aus allen Zeiten, die durch die aktuelle Situation irgendwie zum Schwingen kommen. Zum Teil berühren sie nicht in Sprache präsente Erfahrungen, lösen aber als Reaktionen Vermutungen, Bewertungen, Reaktionsweisen und Lösungsversuche aus. Zum anderen Teil wecken berufliche Erfahrung und durch Schulung geprägte Bilder Vorstellungen von Diagnosen, Zusammenhängen und Vorgehensweisen. Solche benennbaren Wirklichkeitsbilder, aber auch letztlich im Dunkeln bleibende fließen in die Selbststeuerung unmittelbar ein. Das ist der enorme Vorteil von Intuitionen. Ohne dass wir genau wissen müssen, wie, greifen sie auf die Fülle der Lebenserfahrung zu, integrieren blitzschnell Eindrücke auf den verschiedensten Ebenen zu einem Bild und einem Selbststeuerungsimpuls und setzen diesen Impuls unmittelbar in Handlung um. Sind es kreative und durch berufliche Umsicht geläuterte Intuitionen, kann sich der Berater von ihnen leiten lassen und muss sich gewissermaßen nur selbst supervidieren, damit er nicht auf Abwege gerät. Die Zusammenhänge von Intuition und Professionalität sind an anderem Ort ausführlich dargestellt (Schmid u. Gérard 2008).
Im obigen Fallbeispiel (Führungskonflikt) hat vielleicht der Berater selbst engagierte Beziehungen zwischen Männern erlebt. Besonders bei wachsender Autonomie kam es in seiner