Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
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Damit sind wir bei einer näheren Betrachtung dieser innerstaatlichen transformatorischen Prozesse. Im Ergebnis kann nach dem soeben Gesagten keine politische Ordnung davon ausgehen, in ihrer bestehenden Ausgestaltung dauerhaft Bestand zu haben. Das gilt selbst für vermeintlich gefestigte demokratische Verfassungsstaaten, wie die aktuellen Entwicklungen in den USA, Großbritannien oder Indien zeigen.[418] Diesen Umstand unter Berufung auf ein vermeintliches Ende der Geschichte zu ignorieren, erweist sich insofern als erstaunlich geschichtslos. Jede politische Ordnung ist fragil, weil sie einen Gleichgewichtszustand gerade in sozialer Hinsicht nie umfassend zu verwirklichen vermag.[419] Die Legitimität einer Herrschaftsordnung ist kein statisches Faktum, ist nichts für die Ewigkeit. Zutreffend stellt auch Ferdinand Gärditz daher lapidar fest: „Es gibt keine statische Verfassung.“[420] Damit stellt sich für die Allgemeine Staatslehre die Frage nach dem Wesen solcher Veränderungen und nach typischen (auch historischen) Mustern dieser Wandlungsprozesse, die sich möglicherweise verallgemeinern lassen und mit deren Hilfe aktuelle Ereignisse dieser Art – etwa im Hinblick auf die Vorgänge in westlichen Demokratien – besser eingeordnet und verstanden werden können. In dieser Hinsicht wird man, geordnet nach ihrer Intensität, vier transformatorische Prozesse unterscheiden können (a–d), die unter Umständen auch in einer (neuen) Verfassung münden können, wobei der Prozess der Verfassungsgebung wiederum gewissen Regelmäßigkeiten folgt (e). Ihren Ausgangspunkt dürften sämtliche dieser transformatorischen Wandlungen in wie auch immer gearteten Legitimitätsdefiziten des bestehenden Systems haben.[421] Idealerweise ist eine neue Verfassung (respektive eine neue Interpretation der alten) dann in der Lage, die erforderliche Legitimität[422] zu generieren, die für den (stets vorläufigen) Bestand der neuen politischen Ordnung notwendig ist.
a) Stiller Verfassungswandel
Mehr oder weniger im Hintergrund und von keiner zentralen Instanz koordiniert läuft der stille Verfassungswandel ab. Es handelt sich nicht um formale Änderungen der Verfassung,[423] sondern um ein im Laufe der Zeit |75|verändertes Verständnis zentraler Verfassungsbestimmungen, die zur Gewährleistung der erforderlichen Legitimität an den gesellschaftlichen Zeitgeist, europarechtliche Vorgaben[424] oder technischen Wandel[425] angepasst werden, ohne ihren Wortlaut zu verändern.[426] Mit der veränderten Interpretation der Verfassung verändert sich so zugleich das Fundament auf dem die politische Ordnung errichtet ist.[427] An die Existenz einer geschriebenen Verfassung ist ein solcher Wandel nicht geknüpft. Er findet auch in Staaten wie Großbritannien,[428] Neuseeland oder Israel statt, ist bei einer geschriebenen Verfassung allerdings zwangsläufig einfacher feststellbar (dafür aber möglicherweise auch verfassungstheoretisch problematischer). Das Problem eines solchen Wandels ist offenkundig. Es liegt in dem dunklen und dadurch undurchsichtigen Prozess, der entsprechende Veränderungen hervorbringt und der damit zusammenhängenden unklaren demokratischen Legitimation der neuen Interpretation bereits seit Jahrzehnten oder sogar länger bestehenden Verfassungsrechts.[429] Andererseits sind Verfassungsbestimmungen vergleichsweise offen formuliert und ermöglichen dadurch die Implementierung veränderter Verständnisse, wollen das partiell sogar.[430] Eine Verfassungsordnung, die stets die politische Grundlage der aktuellen Gesellschaft abbilden und die notwendige Legitimität der aktuellen politischen Ordnung herzustellen in der Lage sein muss, allzu starr zu interpretieren und keinerlei Veränderung zuzulassen erscheint insofern verfehlt: „Ihre vielfältigen Funktionen kann eine Verfassung letztlich nur erfüllen, wenn sie sich für die Probleme der Gegenwart öffnet und diese Wirklichkeit normativ verarbeitet.“[431] Die Auslegung der Verfassung nach der Idee des „original |76|intent“,[432] wie sie teilweise in den USA präferiert und selbst von einigen Verfassungsrichtern praktiziert wird,[433] ist vielleicht auf den ersten Blick besonders demokratisch, riskiert aber den Bestand der politischen Ordnung selbst, weil die Bedürfnisse und Vorstellungen der aktuellen Generation nicht hinreichend berücksichtigt werden[434] – gerade in Systemen wie den USA, in denen eine formelle Verfassungsänderung auf kaum zu überwindende prozessuale Hürden trifft.[435] Andererseits kann eine Verfassung ihrer Rahmen- und Eingrenzungsfunktion für den politischen Raum nicht gerecht werden, wenn ihr Inhalt nicht wenigstens partiell fixiert und beständig, mithin verlässlich ist (was aber von Unbeweglichkeit oder Starrheit zu unterscheiden ist).[436] Den richtigen Weg zwischen gefährlicher Verstarrung und interpretatorischer Beliebigkeit zu betreten ist für den dauerhaften Bestand eines politischen Systems und einer Verfassungsordnung damit essentiell. Diesen Weg zu weisen und den stillen Verfassungswandel ebenso zu ermöglichen wie ihm Grenzen zu setzen, bildet daher eine konstante Aufgabe der Verfassungstheorie,[437] der juristischen Methodenlehre[438] aber auch der Allgemeinen Staatslehre, die sich auch als normative Wissenschaft versteht und von der die Verfassungstheorie nach Matthias Jestaedt disziplingeschichtlich abstammt.[439] Sie kann zudem Beispiele aufzeigen, in denen dieses Spannungsverhältnis in schonender Weise aufgelöst worden ist. Die Aktualität dieser Fragen zeigt sich in Deutschland an der Diskussion um den Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG,[440] zuvor bereits bei der Auslegung des Art. 68 GG (Vertrauensfrage und Stellung des Bundespräsidenten),[441] in den USA bei der Interpretation des 2. Zusatzartikels (dem |77|Recht, Waffen zu tragen)[442] und in Großbritannien etwa im Hinblick auf die Reichweite der „Royal Prerogative“ und der beim Monarchen verbliebenen Letztzuständigkeiten.[443]
b) Reformen von „Oben“
Reformen durch die politischen Herrschaftsträger – Bruce Ackerman spricht von „Insiders“[444] – können dazu beitragen eine politisch unruhige Situation, eine Unzufriedenheit in der Gesellschaft und damit aufkommende Legitimitätsdefizite zu beheben und den Fortbestand des politischen Systems zu sichern. Im Gegensatz zum stillen Verfassungswandel läuft dieser Prozess aktiv gesteuert ab. Beispiele sind die Reformen in den deutschen Landen (keineswegs nur in Preußen) zu Beginn des 19. Jahrhunderts[445] oder die Einführung der Sozialversicherungen Ende des 19. Jahrhunderts durch Otto von Bismarck. Hintergrund solcher Reformen können eine Eigeninitiative der herrschenden Eliten (so in Preußen), eine Konzession an Protestierende (wie in Südafrika) oder die Mobilisierung bestimmter neuer Bevölkerungsgruppen sein. Um erfolgreich zu sein, müssen diese Reformen rechtzeitig die konkreten Legitimitätsdefizite angehen und beheben. Dazu kann die Einräumung eines Streikrechts ausreichen, möglicherweise sind aber umfangreichere Reformen auch der Grundstrukturen des politischen Systems erforderlich. Entscheidend ist, dass durch die Reformen die faktische Anerkennung der konkreten Herrschaftsordnung als im Wesentlichen sozial gerecht wieder erreicht wird. Wo das gelingt, können Reformen – anders als viele Revolutionen[446] – unter Umständen eine überaus lange Wirksamkeit entfalten: Die Verwaltungsreformen des frühen 19. Jahrhunderts prägen in vielerlei Hinsicht die deutsche Verwaltungsstruktur bis heute. Patentrezepte lassen sich auch durch die Allgemeine Staatslehre nicht angeben. Fest steht aber: Kommen die worin auch immer begründeten Reformschritte zu spät oder gehen diese – wie etwa in Frankreich unter Ludwig XVI. – nicht weit genug, droht der Übergang in eine revolutionäre Phase. Ähnlich erging es der DDR-Führung im Jahr 1989: Die angekündigten weitreichenden Reformen Anfang November 1989 konnten die „friedliche Revolution“ nicht mehr aufhalten. In Chile scheinen die im Jahr 2019 aufkommenden Unruhen durch |78|die Einleitung eines Verfassungsgebungsprozesses vorerst beruhigt worden zu sein.[447]
c) Revolutionen
Revolutionen – der Begriff stammt aus der Astronomie[448] – hat es in der Staatsgeschichte immer wieder gegeben.[449] Als klassisch gelten die Revolutionen in England (1642–60 und die Glorious Revolution 1688), die Französischen Revolutionen (1789,[450] 1830, 1848) und die Russische Revolution (1917). Zu erwähnen sind aber auch die Chinesischen Revolutionen (nationale Revolution 1911–1927 sowie die kommunistische Revolution 1927–1949), die Kubanische Revolution (1953–1959), die Iranische („islamische“) Revolution (1979) sowie die Sawr-Revolution in Afghanistan (1978). Unter dem Begriff „Arabellion“ bzw. „Arabischer Frühling“ wird eine ganze Reihe von Protesten und Revolutionen zusammengefasst, die ab 2010 im nordafrikanischen Raum auftraten, letztlich allerdings nur bedingt als erfolgreich angesehen werden