Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele

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Allgemeine Staatslehre - Alexander Thiele

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das Wesen der Staatlichkeit auch in geschichtlicher Perspektive zu ergründen von vornherein nicht gerecht werden könnte, kann dazu nur wenig beitragen. Gleichwohl kann sie bei einer Beschreibung der heutigen Staatenwelt und der heutigen Herausforderungen in zumindest drei Bereichen von den Erkenntnissen |70|bezüglich der Entstehung der ersten staatlichen Strukturen und ihrer Prozesshaftigkeit profitieren:

       Erstens im Hinblick auf den Begriff des Politischen, der in seinem Inhalt nicht vorschnell mit den politischen Institutionen des modernen europäischen Staates oder wie bei Georg Jellinek überhaupt mit dem Begriff des Staates verknüpft werden sollte.[401] Politisches Handeln in Form von Herrschafts- und Machtausübung[402] im Weber’schen Sinn und darin begründeter sozialer Schichtung hat es seit jeher und nicht nur in Europa gegeben. Das Politische[403] wird insofern durch den Bezugspunkt der Herrschaft konstituiert. Adressat und Autor der kollektiv verbindlichen Entscheidung ist das öffentliche Gemeinwesen, auch wenn lediglich Einzelne durch die Entscheidung betroffen sind oder die Entscheidung durch Einzelne getroffen wird. Das entspricht dem ursprünglichen Sinn des Begriffs, der auf die Polis und damit auf die überindividuelle öffentliche, nicht ausschließlich private Bedeutung von Entscheidungen verweist.[404] Die Bestimmung des Politischen ist daher auch von den Betroffenen und den Akteuren des Gemeinwesens abhängig und damit von den Anschauungen der politischen Gemeinschaft geprägt.[405] Damit ist die verbindliche Entscheidung individueller Konflikte durch ein Gemeinwesen nichts anderes als politische Herrschaftsausübung – und die findet sich in allen frühen Gesellschaftsformen, die daher als politisch angesehen werden können und müssen. Politische Herrschaft ist nicht zwingend an ein bestimmtes, fest umgrenztes Territorium gebunden, wenngleich sie sich regelmäßig dort auswirkt,[406] hängt aber auch nicht an einem irgendwie gearteten Gewaltmonopol.[407] Wie solche Entscheidungen zustande kamen und woraus sie ihre Legitimität schöpften ist auch für eine moderne Allgemeine Staatslehre bedeutend. Der Staat, erst recht der moderne Staat, ist dagegen eine spätere Entwicklungsstufe, die in komplexeren Gesellschaften entstehen |71|kann und durch eine Ausdifferenzierung verschiedener Herrschaftsfunktionen und -strukturen gekennzeichnet ist. Er ist natürlich politisch, bildet aber nicht den gesamten Raum des Politischen ab.

       Zweitens im Hinblick auf das Verständnis des Wandels von Staatlichkeit. Solche transformatorischen Prozesse lassen sich auch in vorstaatlichen Strukturen nachweisen und machen nachgerade das Wesen jeder (politischen) Gemeinschaft aus. Darüber, wie ein solcher Wandel unter welchen Voraussetzungen friedlich ablaufen kann, lassen sich durch diesen Blick zurück auch heutige Transformationsprozesse besser einordnen und verstehen. Hier werden zu einem gewissen Grad wohl auch genuin menschliche Eigenschaften wirksam, die ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Jedenfalls wäre es verfehlt zu glauben, dass die ersten Gemeinschaften bis zur Ankunft der Europäer keine solchen Prozesse durchlaufen hätten.

       Schließlich und drittens dürften die Integrationsleistungen (insbesondere der ersten Hochkulturen) auch für das Verständnis heutiger Integrationsbemühungen von Interesse sein (Stichwort: Flüchtlingskrise). Wie konnte es gelingen, nicht-verwandte Personen in die Gesellschaft aufzunehmen? Lässt sich eine solche Integrationsleistung wiederholen? Die Ausweitung der Reziprozitätsleistungen auf nicht-verwandte „fremde“ Personen bleibt eine staatliche Daueraufgabe, selbst wenn man diesen Vorgang nicht wie Rudolf Smend sogar als nachgerade staatskonstituierend ansieht. Wir brauchen mit Danielle Allen auch heute eine „Kunst des Brückenbauens“,[408] um eine „Interaktionskultur zu schaffen, die dazu beiträgt, dass den Menschen soziale Verbundenheit gelingt.“[409] Kunst und Kultur könnten hier eine wichtige Rolle spielen.

      b) Derivative Staatsentstehung

      Während originäre Staatsentstehung ein historischer Vorgang ist, sind Formen derivativer (abgeleiteter) Staatsentstehung auf Territorien, die schon zuvor zu einem Staat gehörten, immer wieder auf der Tagesordnung. Jüngere Beispiele sind der Südsudan (2011), das Kosovo (2008), Montenegro (2006) oder Osttimor (2002). Somaliland sieht sich nach seiner Abspaltung von Somalia im Jahr 1991 als eigenständiger Staat, wird völkerrechtlich allerdings (bisher) nicht anerkannt. Nordmazedonien existiert zwar erst seit Anfang 2019, Hintergrund bildete jedoch lediglich die mit Griechenland nach langen Verhandlungen vereinbarte Umbenennung der bereits seit 1991 bestehenden Republik Mazedonien (eine Veränderung der politischen Organisation oder gar eine derivative Staatsentstehung war damit nicht verbunden). |72|Die aktuelle Staatenwelt präsentiert immer eine Momentaufnahme, die steter Veränderung unterliegt. Aus völkerrechtlicher Perspektive – und diese ist in dieser Hinsicht zentral – lassen sich fünf Formen derivativer Staatsentstehung unterscheiden. Für alle lassen sich historische Beispiele angeben:

       Dismembration. Diese bezeichnet den Zerfall eines modernen Staates in zwei oder mehr neue Staaten, die umfänglich an die Stelle des bisherigen Staates treten.[410] Der alte Staat geht vollständig unter. Als Völkerrechtssubjekte sind die neuen Staaten mit dem alten Staat nicht mehr identisch (ohne dass damit etwas über mögliche völkerrechtliche Haftungsfragen ausgesagt wäre). Historisch unumstrittene Beispiele bilden der Zerfall der Donau-Monarchie Österreich-Ungarn in die Staaten Österreich, Ungarn, Tschechoslowakei, Jugoslawien (1918), der Tschechoslowakischen Bundesrepublik in die Staaten Tschechische und Slowakische Republik (1993) sowie der Untergang der ehemaligen UdSSR Ende 1991. Umstritten ist die Einordnung des Zerfalls Jugoslawiens (1992).

       Sezession. Bei der Sezession spaltet sich ein Teilgebiet eines bestehenden Staates ab, auf dem sodann ein neuer Staat gegründet wird. Der alte Staat bleibt in veränderter territorialer Gestalt bestehen. Die Voraussetzungen unter denen eine solche Abspaltung zulässig ist – nicht zuletzt die Relevanz des Selbstbestimmungsrechts der Völker –, sind völkerrechtlich umstritten und hängen auch von der konkreten Verfassungsordnung ab. Historische Beispiele sind die Errichtung des Staates Griechenland durch Abspaltung vom Osmanischen Reich (1830), die Sezession Belgiens vom Königreich der Niederlande (1830) oder die Gründung des Irischen Freistaats durch Abspaltung vom Vereinigten Königreich (1922). Aktuelle Sezessionsbewegungen finden sich in Katalonien (zu Spanien gehörend) und – vor dem Hintergrund des nunmehr vollzogenen Brexit – in Schottland (zum Vereinigten Königreich gehörend).[411]

       Annexion. Die Annexion meint die erzwungene (einseitige) Eingliederung eines fremden Staatsgebiets (entweder vollständig oder teilweise) in das Territorium eines anderen Staates; es geht um gewaltsamen Gebietserwerb auf Kosten eines anderen Staates.[412] Völkerrechtlich ist ein solches Vorgehen |73|stets unzulässig, was nicht dazu führt, dass es in der Staatenpraxis unterbleiben würde. Bei einer teilweisen Annexion bleibt der Rest-Staat neben dem annektierenden Staat bestehen. Bei einer vollständigen Annexion geht der annektierte Staat (faktisch) unter. Historische Beispiele finden sich zahlreich, erwähnt sei die Annexion Tschechiens durch das Deutsche Reich im Jahr 1939 sowie die Annexion der Krim (der Ukraine zugehörig) durch Russland im Jahr 2014.[413]

       Beitritt. Der Beitritt (oder Inkorporation) bezeichnet die konsentierte territoriale Übernahme eines Staates durch einen anderen.[414] Der beitretende Staat geht unter, während sich der andere Staat um das Territorium des untergegangenen Staates vergrößert. Beispiel ist der auf Art. 23 GG a.F. beruhende Beitritt der DDR zur Bundesrepublik im Jahr 1990.

       Fusion. Hier gehen zwei oder mehr Staaten zusammen und gründen auf ihren bisherigen Territorien einen gemeinsamen neuen Staat. Die bisherigen Staaten gehen unter. Beispiele bilden die Errichtung der Schweiz im Jahr 1815 oder die Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871.[415]

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