Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion. Johanna Vocht

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Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion - Johanna Vocht Orbis Romanicus

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Tango-Diskurs auf ihren schwachen Charakter zurückgeführt. Hauptmerkmale dieser spezifischen Weiblichkeit seien Abhängigkeit von der brutalen Männlichkeit des compadrito sowie Verschlagenheit.

      Allerdings befinde sich der compadrito in vielen Tango-Texten in der Krise. Als Ausdruck dieser Krisenhaftigkeit führt Archetti die Tatsache an, dass der compadrito seine verletzte Ehre in einigen Fällen nicht mehr durch Tötung der untreuen Geliebten wiederherzustellen, sondern den Ehrverlust tränenreich betrauere und die Frau zu vergessen versuche:

      Many tangos between 1917 and 1930 present the figure of the compadrito in a deep identity crisis. In ‚La he visto con otro‘ (I have seen her with another man) the betrayed man will not kill her: while crying, he will try to forget her.240

      In anderen Narrativen erfahre der betrogene compadrito vermittels der ‚transformativen Kraft der Liebe‘ Läuterung. Anstatt sein Leben durch die kontinuierliche Konkurrenz und körperliche Auseinandersetzung mit anderen Männern aufs Spiel zu setzen, nehme er den potentiellen Ehrverlust hin.241 Das heißt, der Betrug kann für den compadrito nicht nur bedeuten, durch die Rache an seinem Konkurrenten das eigene Leben riskieren zu müssen, sondern er kann die Ehrverletzung gleichsam als Katharsis nutzen.

      Die letzte archetypische heterosoziale Konstellation, die Archetti anführt, ist die von Mutter und Sohn. Dabei werde, so Archetti, der männliche Protagonist der Tango-Narrative niemals als Vater, sondern immer als Sohn dargestellt. Das Bild der idealisierten Mutter werde mit Begriffen wie „purity, suffering, sincerity, generosity, and fidelity“ assoziiert: „The idealized mother is the source of boundless love and absolute self-sacrifice.“242 Reinheit, Leiden und Selbstaufopferung spielen wieder deutlich auf das weibliche Idealbild im Marianismo an, während Aufrichtigkeit, Großzügigkeit, Fröhlichkeit und grenzenlose Liebe eher auf charakterliche Aspekte und Verhaltensweisen deuten, die mit der spezifischen Weiblichkeit der unabhängigen Geliebten korrespondieren.

      Zwei Weiblichkeiten schlössen sich in Archettis Analyse jedoch aus. So besitze die klassische Mutterfigur zwar durchaus Charakteristika der unabhängigen Geliebten, mit der spezifischen Weiblichkeit der Tänzerin sowie dem freiheitlichen Ideal einer romantischen Liebe sei sie jedoch komplett inkompatibel. Archetti argumentiert, dass aus einer freiheitsliebenden Tänzerin (und einer unabhängigen Geliebten) keine aufopferungsvolle Mutter werden könne und vice versa:

      The milonguita cannot be transformed into a ‚mother‘, and, conversely, the ‚mother’s‘ world excludes the nightlife of the public sphere. In other words, a milonguita will never be a wife, or a mother of many children. Hence, for the chaste mother, romantic love is impossible, just as motherhood is impossible for the milonguita.243

      Die Inkompatibilität dieser Weiblichkeiten ist nicht zuletzt an die spezifischen Räumlichkeiten gebunden, welche die jeweiligen Figuren besetzen: die Mutter das Haus als private Enklave, die Tänzerin die Cabarets im öffentlichen Raum.244 Während Muttersein an den häuslichen Raum gebunden ist und heteronormativen Zwängen unterliegt, verkörpert die Tänzerin Werte wie absolute Freiheit und Selbstbestimmtheit, die sie nur in der Öffentlichkeit ausleben kann.245

      Nach diesem Überblick über den theoretischen Grundstock dieser Arbeit, beginnt mit dem folgenden Kapitel die Textarbeit an ausgewählten Romanen und einer Kurzgeschichte Onettis. Doch zunächst einmal soll über die Analyse der diskursiven Darstellung Santa Marías das Untersuchungskorpus eingehend vorgestellt werden.

      3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt: Die diskursive Ausgestaltung Santa Marías innerhalb des Analysekorpus

      El profesor preguntó si el nombre de Santamaría

      me era conocido. Le dije que toda América del Sur

      del Centro estaba salpicada de ciudades

      o pueblos que llevaban ese nombre.

      -Ya lo sé. Pero nuestra Santamaría es cosa distinta.246

      Juan Carlos Onetti (1993)

      Mit La vida breve (1950) entsteht auch Santa María als einer der prägendsten imaginären Orte der lateinamerikanischen Literatur. Denn, wenngleich dieses scheinbar so vertraute und gleichzeitig so schwer greifbare fiktive Territorium stets mit den weitaus berühmter gewordenen Topographien Comala von Juan Rulfo oder Gabriel García Márquez’ weltbekanntem Macondo verglichen wird, so gerät dabei oftmals eines in Vergessenheit: Am Beginn dieser modernen literarischen Entwicklung Lateinamerikas, einen spezifischen Ort ins Zentrum einer oder mehrerer Erzählungen zu stellen, steht Santa María. Der Roman, in dem Juan María Brausen Santa María erstmals imaginierte, erschien 1950, von Comala erfuhren die Leser*innen 1955, von Macondo 1967.

      Santa María geht auf eine Drehbuchidee der Romanfigur Juan María Brausen in La vida breve (1950) zurück. Die Handlung dieses Drehbuchs situiert Brausen ebendort. Da dieses Drehbuch in der Fiktion jedoch nie über den Status des ‚Gedachtwerdens‘ hinausgeht, d.h. von der fiktiven Autorfigur Brausen niemals aufgeschrieben, geschweige denn verfilmt wird, gilt Santa María – zumindest als Drehort im Roman – als gescheitert:

      Yo ya había aceptado la muerte del argumento de cine, me burlaba de la posibilidad de conseguir dinero escribiéndolo; estaba seguro de que las vicisitudes que había proyectado con precisión y frialdad para Elena Sala, Díaz Grey y el marido no se cumplirían nunca. (VB 533)

      Als – von dem realen Autor Onetti zu Papier gebrachter – literarischer Diskursraum verbindet Santa María jedoch fast alle Texte, die Onetti nach La vida breve (1950) verfasst hat. La vida breve (1950) wird damit zum Gründungstext innerhalb des Gesamtwerks. Wie in der Einleitung bereits dargestellt, widmet sich vorliegende Arbeit insbesondere den Santa-Maria-Texten Onettis, die das Verhältnis von künstlerischer Produktion und biologischer Reproduktion abbilden. In editionschronologischer Reihenfolge sind dies: La vida breve (1950), Juntacadáveres (1964), „La novia robada“ (1968), La muerte y la niña (1973) sowie Dejemos hablar al viento (1979). Die fünf ausgewählten Erzählungen sind damit nicht nur durch Santa María als Diskursraum verbunden, sondern auch durch einen thematischen Schwerpunkt: Sie verhandeln allesamt Elternschaft und Reproduktion als dysfunktionale Systeme.247 Dieser Dysfunktionalität steht die Darstellung künstlerische Produktion als herausgehobener Selbstzweck entgegen, wie im vierten Kapitel anhand männlicher Erzähler und männlich konnotierter Erzählkunst herausgearbeitet werden soll. Inwieweit die Problematisierung von Elternschaft als Strategie weiblicher Selbstermächtigung gelesen werden kann, soll im fünften Kapitel untersucht werden. In diesem Kapitel soll jedoch zunächst einmal Santa María vermessen werden, einerseits als alle Erzählungen umspannender Diskursraum, andererseits aber auch als Stadtraum, dessen räumliche Ausgestaltung wiederum in Wechselwirkung zur Darstellung genderabhängiger Machtverhältnisse innerhalb der Texte tritt. Gleichzeitig stellt dieses Kapitel einen inhaltlichen Überblick über die einzelnen untersuchten Texte sowie deren Verknüpfung innerhalb des Analysekorpus dar.

      Im Sinne einer narrativen Rahmung können die beiden Romane La vida breve (1950) und Dejemos hablar al viento (1979) als Anfang und Endes eines möglichen Lebenszyklus‘ namens Santa Marías gelesen werden.248 So schildert La vida breve (1950) die Erfindung Santa Marías sowie dessen metafiktionale Verortung im Gesamtwerk. Dejemos hablar al viento (1979) deutet im letzten Kapitel die physische Zerstörung Santa Marías an und wird gemeinhin als Replik auf alle vorangegangenen Romane, insbesondere La vida breve (1950), interpretiert.249 Die Handlungen von Juntacadáveres (1964), „La novia robada“ (1968) und La muerte y la niña (1973) schreiben sich jeweils intratextuell in diesen Zyklus ein.

      Monographisch gelesen entwickelt sich das anfänglich als Drehort ersonnene Santa María in nachfolgenden

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