Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion. Johanna Vocht

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Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion - Johanna Vocht Orbis Romanicus

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untersuchten Männlichkeiten. Sie stehen damit in einem mitunter gegensätzlichen, ambivalenten und konkurrierenden Verhältnis zueinander, da es laut Archetti mitnichten das eine gültige Tango-Narrativ gibt, sondern auch hier wieder von einer Pluralität, diesmal innerhalb der verschiedenen Texte ausgegangen werden muss.

      Eines der Hauptmotive, das Archetti innerhalb dieser heterogenen Narrative untersucht, ist das der unerfüllten, romantischen Liebe. Heterosexuelle, kinderlose Paare ohne Trauschein konstituierten diese Form des ‚romantischen‘ Zusammenlebens, wobei üblicherweise ‚die Männer‘ von ‚den Frauen‘ verlassen würden. Der Trennungsschmerz und der ob des Verlassen-Werdens erlittene Kontrollverlust stürze ‚die Männer‘ in eine Identitätskrise.228 Anders als in den Konzepten von Machismo und Marianismo, in deren Zentrum Reproduktion und Familie stehen, fokussiert der Tango-Diskurs damit die freie, heterosexuelle Liebe als Gegenentwurf zur bürgerlichen, institutionalisierten Form von Ehe und Familie:

      [T]he basic elements in the cultural construction of romantic love are intimacy, companionship or friendship, the existence of mutual empathy, and the search for sexual pleasure. […] they are perceived as ‚subversive‘ to family life and ordered biological reproduction.229

      Der archetypische „‚man of the tango‘ is middle-aged, single, middle-class“ und auf der Suche nach ‚der Liebe‘ – und nicht nach einer devoten Ehefrau samt zugehörigem, konventionellem Familienleben, wie im Machismo/Marianismo dargestellt. Gegenseitige Liebe, Loyalität und Freundschaft bestimmen die Beziehung, welche dieser so genannte „romantic lover“230 laut Archetti zum Idealbild erhebt. Die zugehörige ‚ideale Frau‘ ordne sich ihm nicht mehr unter und verkörpere auch nicht mehr die für den zeitgenössischen Liebesroman prototypischen Tugenden wie Jungfräulichkeit und Keuschheit, sondern agiere frei und selbstbestimmt. Treue basiere für den romantischen Liebhaber auf wahrer, ‚authentischer‘ Liebe und nicht auf ehelicher Übereinkunft oder als Folge autoritären männlichen Verhaltens. Das heißt, er erwartet, dass seine Geliebte ihm aus freien Stücken treu ist und nicht unter dem Druck gesellschaftlicher Konventionen und männlicher Autorität agiert. Männliche Sexualität richte sich demnach nicht auf Reproduktion, sondern auf sexuelle Erfüllung und die wiederum unerfüllbare Sehnsucht nach der ‚wahren‘, romantischen Liebe. Die spezifische Weiblichkeit, die auf der Suche nach der unerreichbaren ‚wahren‘ Liebe adressiert wird, sieht Archetti daher in der Figur der unabhängigen, selbstbestimmten Liebhaberin verwirklicht: „In the discourse of romantic love women can decide for themselves whom to love. In such cases the chosen man is responsible only for himself and not for her decisions and feelings.“231 Frauen erreichten damit einen Grad an Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit, die jegliche bürgerliche, heteronormative Vorstellung von Weiblichkeiten, die immer in Bezug auf oder in Abhängigkeit von einem Mann konstruiert seien, unterliefen.232 Das Dilemma dieser Beziehung liege in deren Umsetzung, wie der Terminus ‚romantisch‘, sofern er in seinem eurozentrischen Ursprungssinn erfasst wird, bereits impliziere. Denn Beständigkeit habe nach wie vor nur die gesellschaftlich anerkannte Form der Ehe und damit die Erfüllung christlich-bürgerlicher Rollenanforderungen an die Eheleute. Die ‚wahre‘ Liebe bleibe damit nur als Utopie oder unerreichbares kulturelles Konstrukt bestehen. Sobald die Liebenden zueinander gefunden haben, trete, wie Archetti fortfährt, die paradoxe Situation ein, dass die romantische Liebe durch den Weggang der Frau entweder unglücklich ende oder sich in die bürgerlichen Rollenbilder, die sie unterlaufen wollte, fügen müsse.

      Im Gegensatz dazu sei das materialistische Denken der „milonguita“233 innerhalb des Narrativs der romantischen Liebe als oberflächlich und letztlich zerstörerisch markiert – gleichwohl sei sie immer wieder ebenfalls Adressatin des romantischen Liebhabers. Allerdings nur in Form eines unerreichbaren Objekts der Begierde, da dem romantic lover meist die finanziellen Mittel (wealth) fehlten, um ihr das bieten zu können, wonach sie strebe: nämlich einer Verbesserung ihrer sozialen und materiellen Situation. Archetti beschreibt die Tango- bzw. Cabaret-Tänzerin als „sensual and egoistic“; außerdem verfüge sie über „self-confidence that emanates from their beauty and elegance“:234

      The milonguita escapes from the barrio, from poverty perhaps, and from a future as a housewife, to the center […], to the excitement, luxury, and pleasure that the best cabarets offer to young, ambitious, and beautiful women.235

      Die Tango-Tänzerin versuche durch Weggehen aus dem eigenen, meist ärmlichen Viertel den sozialen Aufstieg und einen Ausbruch aus dem gesellschaftlich vorgezeichneten Weg als Mutter und Hausfrau – oder, wie im Falle Miriams in La vida breve (1950), aus der elenden körperlichen Ausbeutung als prekäre Prostituierte.236 Der Aufbruch der Tänzerin sei mit einem Streben nach ökonomischer Verbesserung und den aufregenden Vergnügungen, die das Nachtleben verheiße, verbunden. Der Nachtclub ist damit zugleich als Ort gesellschaftlicher Freiheit markiert: „[C]abaret can provide a space of ‚freedom‘.“237 Dabei ist das Leben als Tänzerin auch stark an Aspekte der Physis geknüpft, denn, wie Archettis Zitat zeigt, ist dieser Weg jungen und schönen Frauen vorbehalten. Mit zunehmendem Alter verliert deren Körperkapital an Wert und führt in die Einsamkeit der Verlassenen. Denn die oberflächlichen, materialistischen Geschenke, die ihnen reiche Männer, Archetti bezeichnet sie als „bacanes“238, bieten, erhalten sie nur, solange sie dem reichen Mann einen körperlichen Gegenwert in Form von Jugend und Schönheit bieten können.

      Der reiche bacán, der seinen Wohlstand zur Verführung junger milonguitas einsetzt, repräsentiert eine Männlichkeit, die innerhalb des Tango-Diskurses als hegemonial wahrgenommen wird. Sie verweist den romantischen Liebhaber auf eine untergeordnete Position. Ökonomische Potenz gilt demnach als Ausdruck hegemonialer Männlichkeit. Der prototypische Macho nach Stevens bietet demnach einen Brückenschlag zwischen den unterschiedlichen Männlichkeiten an – insofern Archetti den bacán allein in Relation zur milonguita schildert. Dessen soziokulturellen Hintergrund, z.B. den entscheidenden Umstand, ob er verheiratet ist oder Kinder hat, erwähnt Archetti nicht – auch nicht in der Negation. Er schildert ihn allein in seinen sozialen Interaktionen im öffentlichen Raum, d.h. dem Tango-Milieu.

      Neben den Archetypen des romantic lover und des bacán arbeitet Archetti jedoch noch eine dritte wichtige männliche Figur innerhalb des Tango-Diskurses heraus, die, wie das nächste Zitat verdeutlichen soll, vor allem in seiner Körperlichkeit und seinem Überlegenheitsstreben auf ‚den Macho‘ nach Stevens verweist. Der compadrito repräsentiert den Typus des ‚eleganten Verführers‘ (im Gegensatz zu dem hauptsächlich als reich dargestellten bacán). Archetti beschreibt ihn als jemanden

      whom no woman is able to resist, and is admired because of his courage, physical strength, and capacity to cheat where necessary. [He] has a defiant and hostile attitude toward other men. In the code of honor defended by the compadrito, violence and fighting establish and reproduce social hierarchies. […] He is very concerned with women’s loyalty but in a context where men expect obedience and submission from their women. He is a character from the outskirts, not the center, of the city. […] In this context male honor is very dependent on female sexual behavior. In some cases the betrayal by the women is punished by death, but in most, the woman is described as weak, unable to resist temptation. The ‚other man‘ takes advantage of her moral fragility, and, consequently, is punished.239

      Seine soziale Stellung erreiche und verteidige der compadrito mittels Gewalt. Interaktionen mit anderen Männern seien von Feindseligkeit und Konkurrenzkampf geprägt. Durch Mut, körperliche Stärke und, wenn nötig Betrug, verschaffe er sich Respekt innerhalb homosozialer Kontexte. Seine männliche Ehre sei von der Treue seiner Geliebten abhängig. Das heißt im Umkehrschluss, er fordert ihre Treue als Beweis seiner Männlichkeit ein – in der romantischen Liebe beruhte diese, wie bereits erläutert, auf der freien Selbstbestimmung der Frau. Der compadrito hingegen ahnde den Betrug, sofern seine Geliebte es überhaupt wagt, ihn zu betrügen, mit körperlicher Bestrafung, die auch den Tod der Frau bedeuten könne. Außerdem räche er sich an dem Konkurrenten, der die weibliche Schwäche ausgenutzt und die Ehre des

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