Blut für Gold. Billy Remie
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Ein Obdachloser saß unter seinem improvisierten Zelt aus braunen Leinen, kraulte einen dreibeinigen Hund, um den die Fliegen selbst im Winter schwirrten, und grinste zahnlos zu Darcar herüber. Sein rechtes Ohr fehlte und war durch eine Art bronzenen Trichter ersetzt worden.
Beklommen wandte Darcar das Gesicht ab, obwohl der Mann freundlich gewirkt hatte. Er drückte Veland enger an sich, da er plötzlich Angst hatte, ihn zu verlieren.
»Mein Junge…« Vic kam mit drei großen Schritten auf ihn zu, augenblicklich baute Darcar sich stolz auf. Der Sheriff beugte sich zu ihm herab und senkte seine freundliche Stimme, als fürchtete er, Darcar könnte die Umstehenden gegen sich aufbringen. »Hier habt ihr es wenigstens warm und ein Dach über dem Kopf. Essen!« Vic lächelte Veland an und wollte ihm das Haar verwuscheln, aber Darcar hielt seinen Bruder weg, starrte böse. Der Sheriff seufzte schwer und ging in die Hocke. »Darc…«
»Nenn mich nicht so. Wir sind keine Freunde. Nicht mehr.« Es war leichter, wütend zu sein, als traurig.
Vic wirkte bedauernd, ließ ihm aber seinen Willen. »Darcar«, betonte er dann, »das hier ist das Beste, was euch in dieser Situation passieren kann. Ich habe dafür gesorgt, dass ihr hier ein Zimmer habt, du wirst es mit Putzen abarbeiten können, wenn du Älter bist, kannst du hinter die Bar oder Rausschmeißer werden.«
Darcar verzog angeekelt das Gesicht. »Du hast Leute geschmiert, um uns in ein Hurenhaus zu bringen!«
Vic senkte betroffen den Blick, schüttelte kurz den Kopf, dann sah er wieder auf, versuchte es mit neuem Mut: »Das hier ist eine Chance, mein Junge. Glaub mir, was du auch über diesen Ort denkst, er ist im Vergleich zum Rattenloch ein Königshaus. Eine gute Gelegenheit, du hättest Arbeit und könntest sparen, um irgendwann wieder Fuß zu fassen! Und immerhin seid ihr hier sicher!«
»Sicher?«, rief Darcar aus, und der Hund des Obdachlosen zuckte wimmernd zusammen. Nervös sah Vic sich um, aber das kümmerte Darcar einen Scheiß. »Weißt du, wo du Veland hier reinbringst? Oh ich kann mir vorstellen, dass sie uns mit Freuden aufnehmen. Junge, naive Kinder…«
»Darc, bitte…«
»Ich bleibe hier nicht!«
»Denk an Veland!«
»Ich denke sehr wohl an ihn. Lieber schlafen wir unter einem Mantel in der Kälte als in diesem … diesem Sündenpool.« Er spuckte das letzte Wort aus, die Blicke der Umstehenden, die ihn feindselig musterten, kümmerten ihn nicht. »Ich weiß, wie es hier zu geht, und ich lasse V nicht in die Gegenwart von Dirnen und Rauschmitteln und Schwarzmarktgeschäften!«
Vic rieb sich verzweifelt den Nacken. »Ich fürchte, du hast keine Wahl!«
»Man hat immer eine Wahl«, sprach Darcar die Worte seines Vaters nach, »und nur weil wir alles verloren haben, heißt das nicht, dass wir auch noch unsere Würde verlieren müssen!«
»Dein Stolz ist hier nicht angebracht!« Langsam verlor Vic seine Geduld.
»Das hat nichts mit Stolz zu tun«, Darcars Stimme klang erstickt, als sich seine Verzweiflung an die Oberfläche kämpfte, er schniefte schnell, seine Hände zitterten, als er sie in Velands Schultern krallte. »Heute putzen wir noch die Böden, morgen liegen wir auf dem Rücken. Du weißt, dass ich recht habe!«
Schuldbewusst senkte Vic erneut den Blick.
Veland sah verwirrt zu Darcar auf: »Was soll das bedeuten?«
»Nichts.« Darcar legte ihm beruhigend die Hand auf den Kopf. »Schon gut.«
Vic versuchte es weiter mit vernünftigen Argumenten: »Niemand zwingt euch zu etwas.«
»Ach nein?« Darcar konnte nicht glauben, dass der Sheriff ihn für so naiv hielt. »Man muss uns nicht zwingen, wenn uns am Ende jedweder Ausweg verwehrt bleibt. Jetzt habe ich noch die Wahl, hier zu bleiben oder ins Rattenloch zu gehen – und ich gehe lieber ins Loch, als mir hier irgendwelche Schulden zu machen, die sich häufen, bis mir doch keine Wahl bleibt.« Seine Stimme wurde schneidend. »Man kann uns alles wegnehmen, aber niemand wird uns zu Huren machen, lieber gehe ich betteln.«
»Oder stehlen?«, warf Vic ihm vor.
»Wenn du dich mehr sorgst, dass aus Kindern Diebe werden könnten, als darum, dass sie … in der Manege arbeiten könnten, kann ich dich beruhigen. Ich habe nichts dergleichen vor.« Nein, er wusste nämlich gar nicht, was er ansonsten vorhatte, aber er wusste ganz genau, was er nicht tun wollte.
Die Diskussion ging noch eine Weile hin und her, Vic versuchte mit einem warmen Bett und Essen Darcar dazu zu bewegen, hinein zu gehen, es sich wenigstens mal anzusehen. Darcar blieb stur.
Währenddessen bemerkte Veland einen Jungen am Straßenrand, der auf dem Bordstein saß und Plakate malte. Er war etwa in seinem Alter, vielleicht etwas älter, von magerer Statur, schwarzes, schulterlanges Haar, das in einem lockeren Zopf steckte, jemand hatte ihm die linke Seite seines Schädels rasiert und in die Stoppeln ein Muster aus Linien hinein geritzt. Er trug ein schwarzes Hemd und Stoffhosen, die bis zu den Knien abgefressen waren, statt eines Gürtels hatte er sich eine Kordel umgebunden, damit der Bund seiner Hose nicht von seiner mageren Hüfte rutschte. An seinen Ohren klimperten unzählige silberne Ringe, und jemand hatte ihn weiß geschminkt und um seine verschiedenfarbigen Augen mit Kohle schwarze Ränder gemalt, er besaß einen – vermutlich aufgemalten – Schönheitsfleck unter dem rechten Auge. Veland starrte ihn ganz fasziniert an, sodass der Junge irgendwann aufsah und ihm sofort mit einem räuberhaften Lächeln zuwinkte.
Veland hob ebenfalls eine Hand, wollte zurückwinken, da schritt Darcar schnell ein, packte seinen Arm und zwang ihn dazu, sich umzudrehen und zu gehen.
»Wir bleiben hier nicht«, beschloss er unnachgiebig und steuerte den Rückweg an. »Niemals!«
Vic seufzte, er musste sich geschlagen geben und nickte seinen Männern zu, als er sich erhob. Sie holten Darcar und Veland ein und packten sie an den Armen.
»Du wirst es bereuen«, rief Vic Darcar bedauernd nach, »aber bist du erst einmal da drinnen, kann selbst ich dir nicht mehr helfen. Dort… endet der Einfluss der Obrigkeit, es gelten andere Gesetze.«
Darcar sah nicht mehr zu ihm zurück, er war nur froh, diesem Ort für immer den Rücken kehren zu können. Vor allem als er sah, dass Veland über die Schulter blickte und den schwarzhaarigen Jungen erneut anstarrte, der aufgestanden war und ihnen verwundert nachsah.
Wenn Darcar Veland vor dem Schicksal bewahren konnte, dass diesem Burschen dort drohte, dann hatte er bereits alles richtig gemacht.
Zumindest hoffte er das.
Doch was ihn im Rattenloch erwartete, wusste er natürlich nicht. Und er hätte es sich in seinen schlimmsten Alpträumen auch nicht ausmalen können.
Kapitel 3
Die Mauer überragte die Dächer aller Gebäude und war so breit wie drei eng stehende Ackergäule. Die Tore aus engen Gittern, von denen die schwarze Friedhofsfarbe abplatzte. Bewacht wurden sie von zahnlosen, verwahrlosten Wächtern, die ein gefährliches Glitzern in ihren Augen trugen, wie man es nur von ausgekochten Schlitzohren kannte. Und tatsächlich luchsten sie Vic noch einen Batzen Noten aus dem Sekel, damit Darcar und Veland ihr letztes Hab und Gut behalten konnten. Dabei handelte es sich lediglich um die Kleidung,