Blut für Gold. Billy Remie
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Doch Darcar wusste nun mehr denn je, dass er das nicht konnte. Dass er genau genommen absolut machtlos war und er nichts hätte unternehmen können, wenn man ihm Veland entreißen wollen würde.
Er konnte rein gar nichts bewirken. Dieses Gefühl – diese Gewissheit – zerschlug ihn innerlich.
»Du tust mir weh«, flüsterte Veland ihm zu, sein Atem streifte Darcars Hals und wärmte ihn für einen winzigen, süßen Moment. Verwundert sah er seinen Bruder an, dessen whiskyfarbene Augen wässrig in seine blickten. Erst da bemerkte er, dass er die kleinen Finger seines Bruders vor Wut zerquetschte. Sofort ließ er locker.
»Tut mir leid«, hauchte er reuevoll und legte Velands Hände stattdessen unter seinem Mantel auf seine Brust, um sie warm zu halten. Sein Bruder kuschelte sich wieder an.
*~*~*
Phillin Burg war groß, erstreckte sich über mehrere Hügel und Ebenen, die Häuser reihten sich eng aneinander, ließen selten Platz für Gässchen. Die Stadt lag an einer Bucht, geformt wie ein Sichelmond. An den vielen Stegen, die hinaus auf das schwarze Wasser des Obsidian Meeres führten, legten täglich unzählige Dampfschiffe unterschiedlicher Größe und Form an, ihre dichten Wolken schienen den Himmel über dem Gewässer zu verdunkeln, wobei über der Stadt meistens ohnehin eine dicke Wolkendecke hing, die Sonne war so selten, dass man sie hier für einen Mythos hielt. Wenn es nicht regnete, schneite es.
Es gab das Bahnhofs- und Geschäftsviertel, das mittig und gehoben lag, dort wurde die Stadt durch die Bahnschienen einmal geteilt. Wer unterhalb wohnte, gehörte zu den Arbeitern, Menschen, die gerade so über die Runden kamen, dort waren die Straßen nicht gepflastert und wurden häufig zu einem dreckigen Sumpf. Oberhalb der Schienen spielte sich das elitäre Leben der Elite ab, wo die Straßen breit, gepflastert und gesäubert waren, sogar Bäume in Reih und Glied eingepflanzt waren, um die Straßen zu teilen. Wer es dann noch auf den Südhügel schaffte, wohnte meistens in einer riesigen Villa, war stadtbekannt und angesehen – oder gefürchtet. Es heißt, dort oben fließe pures Gold aus dem Berg, und bis es unten ankäme, wäre daraus Blut geworden. Während unten die Bewohner dreckiges Wasser abkochten, schlürfte man oben Champagner und aß Kaviar.
Darcar hatte bis zu diesem Moment zu den oberen zehntausend gehört. Er war nie herablassend gewesen und sein Vater hatte ihm beigebracht, dass man für seinen Lohn schwer arbeiten musste – dass nichts selbstverständlich war, auch wenn man in eine reiche Familie geboren wurde. Aber nun, da er all das verloren hatte, fühlte er sich ängstlich gegenüber dem Unbekannten, das ihn auf der anderen Seite der Stadt erwartete.
Das Elendsviertel war ein Stadtteil, der einst durch ein Feuer fast gänzlich niedergebrannt war. Die Flammen hatten sich wie Dämonen von einem Dach auf das andere geschwungen und sich die Häuser einverleibt. Da so viele Menschen betroffen gewesen waren und es kaum Hilfe gegeben hatte, um alle zu retten, hatte man eine Mauer um bestimmte Teile der Ruinen gezogen und es zu einem Ort der Verbannten erklärt. Oft kursierte dort die Seuche, als ob dieser Ort den Tod magisch anzog. Das Viertel lag nicht am Hafen, es erstreckte sich im Norden, mittig in der Stadt, und wurde auf den neuen Karten als schwarzes Loch angezeigt, als wäre ein Meteor an dieser Stelle eingeschlagen.
Der Zug fuhr oft an der Mauer und den Gittertoren, die diesen Ort abschirmten, vorüber. Darcar hatte ihn durch die Fenster ein ums andere Mal gesehen. Doch viel war dort nicht, meist nur halb eingestürzte, geschwärzte Häuser. Der Zug fuhr quer durch das Elendsviertel, dort gab es Zelte in den Gassen, Straßenkinder mit schmutzigen Gesichtern und mager. Manchmal versuchte jemand, den Zug zu überfallen, aber es gab bewaffnete Wachen in den Waggons, die Verbrecher mittlerweile abhielten. Tatsächlich besaß dieser Ort so etwas wie einen Bahnhof, denn Leute aus der Stadt kamen trotzdem hier her.
Um die Manege zu besuchen.
Die Manege. Darcar kannte diesen unerhörten Ort nur aus der Ferne, aber die Gerüchte sprachen für sich. Ein verbrannter Stadtteil, den die Bewohner komplett mit Zirkusplanen verkleidet hatten. Rotweiß und schmutzig leuchtete das Zelt in der Ferne. Es hieß, dort gingen viele angesehen Männer hin, um sich mit ruchlosen Mädchen oder Lustknaben zu vergnügen. Dort spielte sich ein morbides Nachtleben ab, Dekadenz sickerte aus jeder Pore. Leichte Mädchen, leichte Jungen, anzügliches Theater, gefährliche Vorführungen, wilde Tiere, vulgäre Lieder. Sein Vater hatte die Manege verachtet, er war der festen Überzeugung gewesen, dass ein rechtschaffender Mann nicht das Elend dieser Menschen ausnutzen sollte. Darcar hatte einst eine Diskussion zwischen seinem Vater und dessen jüngeren Geschäftspartner Kenneth mit angehört, als sein Vater eben jene Worte, an die Darcar gerade dachte, auch zu diesem gesagt hatte, und Kenneth entgegnete: »Wenn niemand mehr dorthin geht, alter Mann, wie sollen diese Menschen dann überleben? Ohne Kundschaft gibt’s kein Geld, ohne Geld kein Essen.«
Sein Vater war stur geblieben, er verachtete diesen Ort und all die Menschen, die dort freiwillig blieben und auf diese unrühmliche Art ihr Brot verdienten.
Was er wohl jetzt dazu sagen würde, wüsste er, dass Vic sie genau dort unterbringen wollte, um sie vor dem Rattenloch – dem Herz des Elendsviertels – zu bewahren.
*~*~*
»Nein«, weigerte sich Darcar, noch bevor sie hineintraten. Die Straßen waren eng und trotz der Ruinen dunkel. Alles wirkte einen Hauch grauer und kälter, der Nebel kroch wie ein schwebender Teppich über den gepflasterten Boden. Alles hatte den Anschein, als würde es in der Stadt noch brennen, selbst die Schneeflocken, die durch den Wind wehten, sahen wie Asche aus. Darcar glaubte, dass es sogar immer noch nach Rauch roch.
Vor einem der vielen Hintereingänge der Manege blieb er stehen und zerrte Veland an sich. Der Kleine hatte keine andere Wahl, als dicht bei ihm zu bleiben, obwohl sein kindliches Staunen ihn für einen Moment von seiner Angst abgelenkt hatte.
Darcar warf nur einen flüchtigen Blick nach drinnen. Dort war es schummrig und es roch nach einer Mischung aus Schweiß und schweren, süßen Parfums. Der exotische Duft biss in seiner Nase, bis er Kopfschmerzen davon bekam, dabei verwehte der Wind draußen bereits die Geruchsnoten. Da war noch etwas, was er erschnüffelte, aber nicht zuordnen konnte. Vielleicht war es dieses Opium, vor dem Vater ihn immer ausdrücklich gewarnt hatte, und das die Freier, die die Manege besuchen kamen, berauschen sollte. Es glühten Lampen im Inneren, rote Tücher waren über sie gelegt, sodass es gar kein richtiges Licht gab, nur eine rötliche Dämmerung, künstlich erzeugt. Es handelte sich um einen schlichten Durchgang, und mehr als ein paar zigarettenrauchende Gestalten mit verschmierter Schminke und abgesetzten Perücken konnte er nicht erspähen. Aber die Menschen, die sich in den Straßen vor der Manege tummelten, genügten ihm bereits. In bunte Lumpen gehüllt lehnten oder saßen sie an den teils bis zur Hälfe eingestürzten Hauswänden und sahen mit leeren, menschlichkeitsfernen Blicken in seine Richtung, wie Geister aus der Dunkelheit. Sie sahen ungepflegt aus, regelrecht heruntergekommen, viele waren missgestaltet oder ihnen fehlten Gliedmaßen. Die Wände waren mit bunten Plakaten zugekleistert, jede Woche prangte ein anderes Gesicht darauf. »Die beinlose Lolita, die auf ihren Händen tanzt«, verkündete eine Überschrift aus roten Zahlen über einer Zeichnung einer beinlosen Frau, die mit dicken und roten Lippen ihre Brüste nach vorne drückte. »Nach der Show könnt ihr sie im Séparée buchen!«
Auf einem anderen stand: »Charly, der Goldjunge! Seht, wie schnell er sich aus seinen Ketten befreit – nach der Show befreit er euch gerne von euren Hosen.«