Das grüne Gesicht. Gustav Meyrink
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Gustav Meyrink
Das grüne Gesicht
Wohl in keinem seiner Romane weist Gustav Meyrink so eindrucksvoll den Weg zur geistigen Höherentwicklung
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Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel
Vexiersalon van Chidher Grün
las der vornehm gekleidete Fremde, der auf dem Fußsteig der Jodenbreestraat unschlüssig stehengeblieben war, auf
der schwarzen Ladentafel eines schräg gegenüberliegenden Gebäudes eine kuriose Inschrift aus weißen, auffallend
verschnörkelten Buchstaben.
Neugierig geworden, oder um der Menge nicht länger als Zielscheibe zu dienen, die ihn in holländisch bärenhafter
Plumpheit umdrängte und ihre Glossen über seinen Gehrock, seinen blanken Zylinder und seine Handschuhe machte, –
lauter Dinge, die in diesem Stadtteil Amsterdams zu den Seltenheiten gehörten, – überquerte er zwischen
hundebespannten Gemüsekarren hindurch den Fahrdamm, gefolgt von ein paar Gassenbuben, die, die Hände tief in die
unförmlich weiten, blauen Leinwandhosen vergraben, mit krummen Rücken, eingezogenem Bauch und gesenkten
Häuptern, dünne Gipspfeifen durch die roten Halstücherknoten gesteckt, sich in schlurrenden Holzschuhen faul und
schweigsam hinter ihm dreinschoben.
Das Haus, in dem der Laden des Chidher Grün in einen gürtelartig rings herumlaufenden, rechts und links bis in zwei
parallele Quergäßchen sich hineinziehenden schmalen Glasvorbau mündete, schien, nach den trüben leblosen
Fensterscheiben zu schließen, ein Warenspeicher zu sein, dessen Rückseite vermutlich in eine sogenannte Gracht abfiel
– eine der zahlreichen, für den Handelsverkehr bestimmten Wasserstraßen.
In niedriger Würfelform aufgeführt, glich es dem oberen Teil eines dunklen viereckigen Turmes, der im Lauf der
Jahre allmählich bis zum Rande seiner steinernen Halskrause – des jetzigen Glasvorbaues – in der weichen Torferde
versunken war.
Mitten im Schaufenster des Ladens lag auf einem mit rotem Tuch bespannten Sockel ein dunkelgelber Totenkopf
aus Papiermaché von unnatürlichem Aussehen, – der Oberkiefer unter der Nasenöffnung viel zu lang und die
Augenhöhlen und Schatten um die Schläfen schwarz getuscht, – und hielt zwischen den Zähnen ein Pique-As.
"Het Delpsche Orakel, of de stemm uit het Geesteryk", stand darüber geschrieben.
Große Messingringe, ineinandergreifend wie Kettenglieder, hingen von der Decke herab und trugen Girlanden
grellbemalter Ansichtskarten, die warzenübersäte Gesichter von Schwiegermüttern mit Vorhängeschlössern an den
Lippen darstellten oder bösartige, mit Besen drohende Ehegattinnen; andere Bildchen dazwischen in transparenten
Farben: üppige junge Damen im Hemde, den Brustlatz schamhaft festhaltend, und darunter die Erklärung: "Tegen het
Licht te bekijken. Voor Gourmands."
Verbrecherhandschellen, als die "berühmte Hamburger Acht" bezeichnet, daneben ägyptische Traumbücher in
Reihen ausgebreitet, künstliche Wanzen und Schwaben (ins Bierglas des Wirtshausnachbars zu werfen), bewegliche
Nasenflügel aus Gummi, retortenförmige Glasflaschen mit rötlichem Saft gefüllt: "das köstliche Liebesthermometer oder
der unwiderstehliche Schäker in Damengesellschaft", Würfelbecher, Schüsseln mit Blechgeld, "der Coupéschrecken"
(ein unfehlbares Mittel für die p. p. Herren Handlungsreisenden, während der Eisenbahnfahrt dauernde
Bekanntschaften anzuknüpfen), bestehend aus einem Wolfsgebiß, das man unter dem Schnurrbart befestigen konnte, –
und über all der Pracht reckte sich aus strumpfschwarzem Hintergrund segnend eine Wachsdamenhand, um das
Gelenk eine papierne Spitzenmanschette.
Weniger aus Kauflust, als um der Fischgeruchsaura seiner beiden jugendlichen Begleiter zu entrinnen, betrat der
Fremde den Laden.