Das grüne Gesicht. Gustav Meyrink
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Das grüne Gesicht - Gustav Meyrink страница 3

aus dem Ohr wieder heraus.
Gern hätte der Fremde noch mehr gesehen, aber die junge Dame ließ rasch die Portière fallen, da ihr der Herr
Professor einen verweisendem Blick zuwarf und ein schrilles Klingeln sie überdies ans Telephon rief.
"Seltsam bunt wird das Leben, wenn man sich Mühe gibt, es in der Nähe zu betrachten, und den sogenannten
wichtigen Dingen den Rücken kehrt, die einem nur Leid und Verdruß bringen", dachte der Fremde, nahm von einem
Bord, auf dem allerhand billiges Spielzeug lag, eine kleine offene Schachtel herunter und roch zerstreut daran. Sie war
angefüllt mit winzigen, geschnitzten Kühen und Bäumchen, deren Laub aus grün gebeizter Holzwolle bestand.
Der eigentümliche Duft nach Harz und Farbe nahm ihn einen Augenblick ganz gefangen. – Weihnachten!
Kinderjahre! Atemloses Warten vor Schlüssellöchern; ein wackliger Stuhl mit rotem Rips überzogen, – ein Ölfleck
darin. Der Spitz – Durudeldutt, ja, ja, so hat er geheißen – knurrt unter dem Sofa und beißt der beweglichen
Schildwache ein Bein ab, kommt dann, das linke Auge zusammengekniffen, schwerverstimmt hervorgekrochen: die
Feder des Uhrwerkes ist losgegangen und ihm ins Gesicht gesprungen. – Die Tannennadeln knistern, und die
brennenden roten Kerzen am Christbaum haben lange Tropfbärte. –
Nichts vermag die Vergangenheit so schnell wieder jung zu machen, wie der Lackgeruch von Nürnberger Spielzeug,
– der Fremde schüttelte den Bann ab, "es wächst nichts Gutes aus der Erinnerung: Erst läßt sich alles süß an, dann hat
das Leben eines Tages plötzlich ein Oberlehrergesicht, um einen schließlich mit blutrünstiger Teufelsfratze – – – nein,
nein, ich will nicht!" – er wandte sich dem drehbaren Büchergestell zu, das neben ihm stand. "Lauter Bände in
Goldschnitt?" – Kopfschüttelnd buchstabierte er die wundersamen, ganz und gar nicht zur übrigen Umgebung
passenden, gekerbten Rückentitel: "Leidinger, G., Geschichte des akademischen Gesangvereins Bonn", "Aken, Fr.,
Grundriß der Lehre vom Tempus und Modus im Griechischen", "Neunauge, K. W., Die Heilung der Hämorrhoiden im
klassischen Altertum"? – "nun, Politik scheint, Gott sei Dank, nicht vertreten zu sein" – und er nahm: "Aalke Pott, Über
den Lebertran und seine steigende Beliebtheit, 3. Band" vor und blätterte darin.
Der miserable Druck und das elende Papier standen in verblüffendem Gegensatz zu dem kostbaren Einband.
"Sollte ich mich geirrt haben? Handelt es sich vielleicht gar nicht um eine Hymne auf ranziges Öl?" – der Fremde
schlug die erste Seite auf und las erheitert:
"Sodom- und Gomorrhabibliothek"
Ein Sammelwerk für Hagestolze.
(Jubiläumsausgabe.)
Bekenntnisse eines lasterhaften Schulmädchens.
(Fortsetzung des berühmten Werkes:
Die Purpurschnecke)
"Wahrhaftig, man glaubt die 'Grundlage des zwanzigsten Jahrhunderts' vor sich zu haben: außen brummliges
Gelehrtengetue und innen – der Schrei nach Geld oder Weibern", brummte er vergnügt und lachte dann laut hinaus.
Nervös fuhr der eine der beiden wohlbeleibten Handelsherren von seinem Guckkasten empor (der andere, der
Holländer, ließ sich nicht stören), murmelte verlegen etwas von "wunnerschoenen Sstädteansichten" und wollte sich
schnell entfernen, nach Kräften bestrebt, seinem durch den überstandenen optischen Genuß ein wenig ins
Schweinskopfartige zerflossenen Gesichtsausdruck wieder das altgewohnte Gepräge des unentwegt auf geradlinig
strenge Lebensauffassung gerichteten Edelkaufmanns zu verleihen, da leistete sich der satanische Versucher aller
Schlichtgesinnten in Gestalt eines hämischen Zufalls, aber fraglos in der Absicht, die Seele des Biedermanns nicht
länger im Unklaren zu lassen, in welch frivoler Umgebung sie sich befand, einen höchst unziemlichen Scherz:
Durch eine allzu eilige Flatterbewegung beim Anziehen des Mantels hatte der Handelsherr mit dem Ärmel das
Pendel einer großen Wanduhr in Bewegung gesetzt, und sofort fiel eine mit trauten Familienszenen bemalte Klappe
herunter; nur erschien statt des zu erwartenden Kuckucks der wächserne Kopf nebst spärlich bekleideten Oberleib
einer über die Maßen frechblickenden Frauensperson und sang zum feierlichen Glockenklang der zwölften Stunde mit
verschleimter Stimme:
"Tischlah sejen
"ganz verwejen,
"hobeln flott drauf los;
"fein und glatt
"wird das Blatt – – –"
"Blatt, Blatt, Blatt" – ging es plötzlich, sich rhythmisch wiederholend, in einen krächzenden Baß über. Entweder hatte
der Teufel ein Einsehen oder war ein Haar ins Grammophongetriebe geraten.
Nicht länger gesonnen, neckischen Kobolden zum Opfer zu fallen, suchte der Chef der Meere mit empört
gequäktem "aarch anstößich" fluchtartig das Weite.
Obschon mit der Sittenreinheit nordischer Völkerstämme wohl vertraut, konnte sich der Fremde dennoch die
übermäßige Verwirrung des alten Herrn nicht recht erklären, bis ihm langsam der Verdacht dämmerte, er müsse ihn
irgendwo kennengelernt haben, – ihm wahrscheinlich in einer Gesellschaft vorgestellt worden sein. Ein schnell
vorübergehendes, damit verknüpftes Erinnerungsbild: eine ältere Dame mit feinen traurigen Zügen und ein schönes
junges Mädchen, bestärkte ihn in seiner Annahme, nur konnte er sich des Ortes und der Namen nicht mehr entsinnen.
Auch das Gesicht des Holländers, der soeben aufstand, ihn mit kalten, wasserblauen Augen verächtlich von oben bis
unten abschätzte und sich dann träge hinauswälzte, half seinem Gedächtnis nicht nach. Es war ein ihm völlig
Unbekannter von brutalem, selbstbewußten Aussehen.