Das grüne Gesicht. Gustav Meyrink
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schienen, kam es ihm vor, als wäre sein Kopf ein Kerker, und er selbst säße darin und blickte durch seine Augen
hindurch wie durch langsam erblindende Fenster in eine Welt der Freiheit hinein, die für immer Abschied nimmt.
* * *
Die Stadt lag in tiefer Dämmerung, und das hallende Dröhnen von den zahllosen seltsam geformten Türmen und ihre
Glockenspiele zitterten durch den Dunst, als die ersten Häuserreihen ihn aufnahmen.
Er entließ den Wagen und ging der Richtung zu, in der seine Wohnung lag, durch winklige Gassen, Grachten entlang,
in denen regungslos schwarze plumpe Kähne schwammen, eingetaucht in eine Flut fauler Äpfel und verwesenden
Unrats, unter Giebeln mit eisernen Hebearmen hinweg, die aus vornübergebeugten Mauern sich im Wasser spiegelten.
An den Türen saßen gruppenweise auf Stühlen, die sie aus ihren Stuben geholt hatten, Männer in blauen weiten
Hosen und roten Kitteln, Weiber flickten schwätzend an Netzen, und Scharen von Kindern spielten auf der Straße.
Rasch schritt er hindurch an den offenen Hausfluren vorbei, die ihn anhauchten mit ihrem Atem von Fischgeruch,
Arbeitsschweiß und ärmlichem Alltag, über Plätze hin, wo an den Ecken die Waffelbäcker ihre Stände aufgeschlagen
hatten und ein Brodem von brenzlichem Schmalzdampf bis in die schmalen Gassen zog.
Die ganze Trostlosigkeit der holländischen Hafenstadt mit dem sauber gewaschenen Pflaster und den unsagbar
schmutzigen Kanälen, den wortkargen Menschen, dem fahlweißen Netzwerk der Schiebefenster an den engbrüstigen
Häuserfassaden, den engen Käse- und Heringsläden mit ihren schwelenden Petroleumlichtern und den giebligen
rotschwärzlichen Dächern, legte sich ihm auf die Brust.
Einen Augenblick sehnte er sich fast aus diesem Amsterdam mit seiner finsteren Abkehr von Heiterkeit zurück in die
lichteren Städte, die er von früher kannte und in denen er gelebt hatte. Das Dasein in ihnen schien ihm mit einemmal
wieder begehrenswert, – wie alles, was in der Vergangenheit liegt, schöner und besser erscheint als die Gegenwart, –
doch die letzten, häßlichen Erinnerungen, die er von ihnen mitgebracht hatte, die Eindrücke äußern und innern Verfalls
und des unaufhaltsamen Hinwelkens erstickten sofort das leise erwachende Heimweh.
Um seinen Weg abzukürzen, passierte er eine eiserne Brücke, über die eine Gracht in die feinen Stadtviertel führte,
und durchquerte eine in Licht getauchte, dichtbelebte Straße mit prunkvollen Schaufenstern, um ein paar Schritte
später, als habe die Stadt blitzschnell ihr Antlitz verändert, wieder in einer stockfinstern Gasse zu stehen: Die alte
Amsterdamer "Neß", die berüchtigte Dirnen- und Zuhälterstraße, vor Jahren niedergerissen, war hier wie eine
scheußliche Krankheit, die plötzlich von neuem hervorbricht, in einem andern Stadtteil wieder auferstanden mit einem
ähnlichen, nicht mehr so wilden und rohen, aber weit furchtbareren Gesicht.
Was Paris, London, die Städte Belgiens und Rußlands an Existenzen ausspien, die, auf kopfloser Flucht vor den
losbrechenden Revolutionen ihre Heimat mit dem erstbesten Zug verlassen hatten, traf hier in diesen "vornehmen"
Lokalen zusammen.
Portiers mit langen blauen Röcken, Dreispitze auf dem Kopf und Stäbe mit Messingknäufen in der Hand, rissen
stumm wie Automaten die gepolsterten Eingangstüren auf und schlugen sie wieder zu, als Hauberrisser vorüberschritt,
so daß jedesmal ein greller, blendender Schein auf die Gasse fiel und eine Sekunde lang wie aus einer unterirdischen
Kehle heraus ein wüster Schrei von Negermusik, Zimbalbrausen oder wahnwitzig aufheulenden Zigeunergeigen die
Luft zerriß.
Oben, in den ersten und zweiten Stockwerken einzelner Häuser, herrschte eine andere Art Leben – ein lautloses,
flüsterndes, katzenhaft lauerndes hinter roten Gardinen. Kurzes, schnelles Fingertrommeln an den Scheiben, da und
dort gedämpfte Rufe, hastig abgerissen, in allen Sprachen der Welt und dennoch nicht mißzuverstehen, – ein Oberleib
in weißer Nachtjacke, der Kopf unsichtbar in der Finsternis, wie abgehauen von einem Rumpf mit winkenden Armen,
– dann wieder: offene, pechschwarze Fenster, leichenhaft still, als wohne in den Zimmern dahinter der Tod.
Das Eckhaus, das die lange Gasse abschloß, schien verhältnismäßig harmlosen Charakters zu sein; – ein Gemisch
aus Tingeltangel und Restaurant, nach den Zetteln zu schließen, die an den Mauern klebten.
Hauberrisser trat ein.
Ein menschenüberfüllter Saal mit runden, gelbgedeckten Tischen, an denen gegessen und getrunken wurde.
Im Hintergrund ein erhöhtes Podium mit einem Halbkreis von etwa zwölf Chansonetten und Komikern, die auf
Stühlen saßen und warteten, bis ihre Nummer drankam.
Ein alter Mann mit kugelförmigem Bauch, aufgeklebten Glotzaugen, weißem Kehlbart, die unglaublich dünnen Beine
in grünen Froschtrikots mit Schwimmhäuten, saß zehenwippend neben einer französischen Coupletsängerin in
Incroyablekostüm und unterhielt sich flüsternd mit ihr über anscheinend sehr wichtige Dinge, während das Publikum
verständnislos den in deutscher Sprache gehaltenen Vortrag eines als polnischer Jude verkleideten
Charakterdarstellers in Kaftan und hohen Stiefeln über sich ergehen ließ, der, eine kleine Glasspritze, wie sie in
Bandagistenläden feil sind – für Ohrenleidende – in der Hand hielt und dazu, nach jeder Strophe einen grotesken
"Deigestanz" einschaltend, durch die Nase sang:
"Jach ordiniier
vün draj bis vier
und wohn' im zweiten Stock;
als Spezialist
berihmt sehr ist
der Doktor Feiglstock."
Hauberrisser sah sich nach einem noch freien Platz um; überall war die Menge – anscheinend zumeist Einheimische