Heilung - Plädoyer für eine integrative Medizin. Peter Maier

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ganz vergessen. Und ich war als Lehrer stets sehr dienstbeflissen. Der Beruf stand immer im Vordergrund, das Privatleben spielte eher eine Nebenrolle. Offensichtlich wirkten die beiden Gelübde – die damals als „heilig“ empfundenen (Lebens)Beschlüsse, die ich so intensiv in der Kindheit als 10- und als 13-Jähriger getroffen hatte –, unbewusst weiter und bestimmten mein Leben mehr als mir lieb war.

      Wo aber war die ganze Zeit meine ursprüngliche Vitalkraft geblieben? Wo steckten in all den Jahren mein Freiheitsdrang, meine Kreativität und meine Lust an einer umfangreichen Freizeit- und Urlaubsgestaltung? Ich muss mir eingestehen, dass ich die ganze Zeit fast nur Verstandes-gesteuert gelebt hatte. Jetzt im Krankenbett nach der Leistenbruch-OP wird mir schmerzlich bewusst, dass die beiden „Beschlüsse“ aus der Kindheit wirksam blieben und so viel in meinem Leben verhindert haben. Dabei ist mein Vater als damalige Autoritätsperson, für die und wegen der ich die Gelübde gemacht hatte, seit fünf Jahren tot.

      Nun fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Der Leistenbruch, den ich mir am Ende meiner beruflichen Tätigkeit endlich leisten kann, ist Ausdruck eines jahrelangen inneren geistigen und seelischen Fundamental-Lebens-Kampfes in mir selbst. Noch immer hat mein Verstand wie ein Torwächter die beiden damaligen Beschlüsse (Gelübde) verteidigt, die mein ganzes bisheriges Leben geprägt hatten. Das konnte doch nicht falsch gewesen sein! Offensichtlich haben sich jetzt endlich verdrängte, weggesperrte Vitalkräfte durchgesetzt und mit diesem unmenschlichen geistigen Verstandes-Torwächter in mir den Kampf aufgenommen.

       Eine Bibelgeschichte hilft weiter

      Diese ursprünglichen Vitalkräfte haben den Kampf in mir wohl bereits gewonnen, aber der Preis ist hoch: Die innerseelische Auseinandersetzung zwischen Kopf und Bauch, zwischen Verstand und Gefühl hat mir – im Bauchbereich – einen Leistenbruch links erzeugt, die beiden Muskeln an der Leiste auseinander gerissen. Erinnerungen an eine alttestamentliche Bibelstelle werden wach: Jakobs Kampf am Fluss Jabbok.5

      Vordergründig geht es in der Bibelgeschichte um den Kampf der beiden Zwillingsbrüder Jakob und Esau. Dabei ist Jakob der Kopfmensch, Esau dagegen der Trieb- und Vitalbursche. Jakob hat aufgrund seiner geistigen Schlauheit Esau um das Erbe und um den Vatersegen betrogen. Daher musste er vor Esau fliehen. Jetzt, 20 Jahre später bei seiner Rückkehr, wird er nachts, als er ganz allein ist, von Esau, der ihm als unbekanntes Gespenst erscheint, angefallen und fast umgebracht. Dennoch gewinnt er schließlich den Kampf, nachdem er die ganze Nacht mit diesem Esau-Mann auf Leben und Tod gerungen hat. Dieser muss bei Tageslicht weichen. Als Jakob aber am Morgen über den Fluss Jabbok zurückkehrt, ist er von diesem nächtlichen Kampf gezeichnet – zeitlebens. Er hat einen kräftigen Schlag auf die Hüfte abgekriegt – eine nachhaltige Verletzung also, so dass er ab jetzt nur noch mit einem Stock gehen kann. Er hinkt...

      Tiefenpsychologen haben diese Geschichte auf der sogenannten Subjektebene interpretiert. So wie auch bei einer Traumdeutung, können die beiden Kampfpartner „Verstandes-Jakob“ und „Gefühls-Trieb-Esau“ als zwei Seelenkräfte ein und derselben Person angesehen werden, die im Widerstreit liegen. Da Jakob so viele Jahre aber nur kopfgesteuert gelebt und seinen Esau-Seelenteil verdrängt hat, fällt ihn nun sein eigener Schatten an – dieser Esau-Gefühls- und Trieb-Seelenteil, den er lange Zeit so schmählich vernachlässigt und wohl auch verachtet hat. Der Lohn der Geschichte – auf der tiefenpsychologischen Ebene betrachtet – ist jedoch für Jakob gar nicht hoch genug einzuschätzen. Jakob hat seinen Esau-Emotions-Trieb-Teil wieder erlebt – und integriert. Dadurch ist Jakob zur Gesamtpersönlichkeit aus einem Jakob-Verstandesteil und einem Esau-Gefühlsteil gereift. Das ist doch wunderbar.6

      Diese archaische Geschichte ist zeitlos und archetypisch. Daher kann sie jetzt auch mir dienen, um meinen Leistenbruch in der Tiefe zu verstehen und zu deuten. Die Tatsache, dass es mir ja die Leiste bereits zerrissen hat, gibt mir die Hoffnung, dass mein Kampf mit dem verdrängten „Esau-Seelenteil“ – mit dem Vater in mir – schon stattgefunden hat und vorüber ist. Ein doppeltes Gelübde aus der Kindheit, jeweils bezogen auf meinen Vater, ist von mir abgefallen.

      Habe ich diesen meinen vitalen Esau-Teil, so wie Jakob in der Bibelgeschichte, aber schon integrieren können? Ich denke, das wird noch ein längerer Innenprozess werden, aber ich bin sehr zuversichtlich, dass dies gelingt. Dann wären die ganzen Umstände der Operation, sowie die Tatsache, dass ich wie Jakob in der Bibelgeschichte ab jetzt eine starke körperliche Einschränkung haben werde, nicht umsonst gewesen.

      Und die Ameisen? Die wundervollen Tiere zeigten mir ja schon vor Monaten an, dass bald einiges von mir abfallen würde. In diesem Fall durfte ich die beiden Vater-Gelübde loslassen (von mir „abfallen“ lassen), die wohl in der Kindheit ihre Bedeutung hatten, nun jedoch zu einer immer größeren Last und Beeinträchtigung meines Lebens geworden waren. Danke, ihr Ameisen, dass ihr mir den Weg vorhergesagt und aufgezeigt habt! Danke, Esau-Vital-Teil, dass du zu mir zurückgekehrt bist! Danke auch, lieber Operateur, der du meine Leiste wieder fachmännisch vernäht hast…

      Im Neuen Jahr (2019) gehe ich wieder zur Schule, aber es fällt mir schwer. All die Ereignisse im November und Dezember haben mich ziemlich mitgenommen und mich viel Energie gekostet. Darum ist es auch kein Wunder, dass ich im Februar in einen ziemlichen Winter-Blues gerate, in eine depressive Verstimmung, die etwa sieben Wochen lang andauert und meine Arbeit belastet. Wo ist nur meine Esau-Vital-Energie geblieben, die doch durch die Leistenbruch-OP prinzipiell freigesetzt wurde?

      Meine Frau drängt mich deswegen dazu, nach Jahren endlich wieder eine Vorsorgeuntersuchung bei meinem Hausarzt zu machen, um mein ganzes Körper-System einmal richtig durchchecken zu lassen. Bei der Blutuntersuchung Anfang März fällt auf, dass der sogenannte PSA-Wert7 etwas über dem Normbereich für meine Altersklasse liegt. Der Arzt empfiehlt mir daher, bei Gelegenheit einen Urologen aufzusuchen. Das habe ich auch vor, doch zunächst verbringen meine Frau und ich in den Osterferien eine wunderbare Woche auf Malta. Nichts wird jedoch danach wieder so sein wie zuvor.

      Denn gleich nach der Rückkehr gehe ich zum Urologen. Der erfahrene Arzt stellt nach einem kurzen Tastbefund fest: „Ihre Prostata ist nicht in Harmonie, auf der rechten Seite ist eine deutliche Verhärtung festzustellen.“ Noch in der gleichen Woche wird eine Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) durchgeführt. Bei der Auswertung wird ein Knoten in der rechten Prostata-Seite festgestellt, der vom Radiologen mit der Bezeichnung „80 Prozent maligne“ versehen wird. Es handelt sich womöglich um einen „bösartigen“ Tumor in der Prostata.

       Die Diagnose haut mich um

      Eine Biopsie mit anschließender Untersuchung der Gewebeproben im Labor ergibt, dass ich einen aggressiven Prostatakrebs habe. Der Urologe drängt mich zu einer sofortigen Operation, um einer Streuung in andere Körperorgane zuvorzukommen. Diese Diagnose ist für mich so, als ob mir ein Boxer soeben einen kräftigen Magenschwinger versetzt hätte: sie haut mich um. Schlagartig wird mir nun die in unserer Gesellschaft vorherrschende Einstellung bezüglich Krebs klar, die auch ich bisher unbewusst übernommen hatte:

       Mit Krebs habe ich nichts zu tun, er betrifft nur die anderen.

       Wenn es mich aber mit Krebs erwischt, muss ich sterben.

      Todesangst durchfährt mich bis in meine Knochen hinein. Und jetzt kommen mir auch sofort wieder die Ameisen in den Sinn. Sie wollten mir offensichtlich nicht nur ankündigen, dass bald etwas von mir „ab-fallen“ wird (der Nierenstein, die Vater-Gelübde usw.), sondern dass ich bereits von etwas „be-fallen“ sei – von aggressiven Krebszellen, die ich mir nun ebenso schwarz wie die kleinen schwarzen aggressiven Ameisen im Camper vorstelle. Die Ameisen auf meinem Körper haben mir somit schon acht

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