Justice justified. Kendran Brooks
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»Aber das muss doch nicht die Regel sein…«, warf Mei ein, erntete jedoch einen verächtlichen Blick des Deutschen und verstummte deshalb.
»Schaut doch genau hin. Nehmen wir als Beispiel eine Unternehmensberatung. Sie stellt die besten Absolventen der besten Universitäten an, formt sie in internen Seminaren für ihr Aufgabengebiet, setzt sie auf Projekte an, ähnlich wie Spürhunde, die jeder Fährte bis zu ihrem Ende folgen und die Opfer ohne Skrupel zerfleischen können. Und sie haben durchaus Erfolg in ihren Bestrebungen, denn die Studienabgänger sind ja höchst motiviert und außerordentlich leistungsfähig. Zudem winkt ihnen ein rascher Aufstieg innerhalb des Unternehmens, vom Junior zum Consultant, danach zum Senior und wenig später, faktisch als Olymp, die Partnerschaft. Jeder engagierte Mitarbeitende soll dies innerhalb von zehn Jahren erreichen können, so jedenfalls versichert man es all den armen Hunden.«
Der Dunkelblonde unterbracht seine Ausführungen für einen Moment, weil eine Frau neben ihnen stehen geblieben war, in ihrer Brieftasche eine 5-Dollar-Note hervorkramte und vorsichtig in den Kunststoffbecher stopfte, ja darauf bedacht, ihn nicht etwa umzustoßen oder mit ihren Fingerspitzen in die unmittelbare Nähe der 10-Dollar-Note zu gelangen.
Der Deutsche schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, das auf ihren Wangen eine zarte Rötung hinterließ. Mei hätte beinahe laut aufgelacht.
»Doch nach sechs harten Jahren und längst zum Senior-Berater geworden, eigentlich auf dem Sprung in die höchste Liga, wird das Unternehmen verkauft oder mit einem anderen fusioniert. In der Folge gibt es viel zu viele Partner, viel zu viele Seniors, viel zu viel von allem. Wenn dazu noch durch Rezession einige erwartete Großprojekte ausbleiben, wird gnadenlos ausgedünnt. Die Teuersten, die zuvor hochgelobten Besten, ja die am meisten Gehegten, müssen als Erste gehen, denn die Kosteneinsparung hilft den verbleibenden Partnern ihr hohes Einkommen trotz Wirtschaftsflaute und Fusion beizubehalten. Gerechtigkeit? Nicht in einem System der gegenseitigen Ausbeutung, der Übervorteilung und des Egoismus.«
»Karl Marx scheint auferstanden zu sein«, frotzelte Chufu nun, erntete vom Deutschen jedoch nur ein müdes Lächeln.
»Was Marx veröffentlicht hatte, das haben griechische Philosophen mehr als zweitausend Jahre zuvor bereits zu ihren Themen gemacht. Ob Platon oder Epikur. Ja selbst bei Sokrates, wenn man ihn richtig zu lesen vermag.«
»Und wie sieht denn dein System einer gerechteren Welt aus?«, wollte nun Mei vom Bettler wissen.
Der Dunkelblonde blickte sie erst nachdenklich an, entweder, weil er wirklich über seine Antwort noch brütete oder aber, weil er sich fragte, ob er der Chinesin offen und ehrlich Auskunft geben sollte.
»Zuerst einmal kann es gar keine Gerechtigkeit geben, denn jeder Mensch versteht darunter etwas anderes, entsprechend seiner persönlichen Situation, seinem Umfeld, seinen Ansichten über die Welt. Wir sollten uns deshalb vom Gedanken einer gerechten oder gerechteren Welt lösen und den Tatsachen ins Auge blicken. Doch unsere Politiker streuen auch in diesem Punkt den Völkern weiterhin Sand in die Augen, machen nicht einlösbare Versprechen, reden von Gerechtigkeit, verkaufen jedoch bloß ihre Wähler für dumm. Und die Leute lassen sich stets bereitwillig darauf ein, weil sie glauben, ihnen wird eine Last abgenommen, nämlich die Last, für sich selbst zu sorgen. Ein überaus gerechter Staat soll sie stattdessen schützen und hegen. Dabei wird jedoch stets mehr Macht in noch weniger Hände gelegt. Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit verfügten die Staaten und ihre Repräsentanten über eine so flächendeckende und allgegenwärtige Machtfülle wie heute. Ist es da Zufall, dass auch noch nie in der Geschichte der Menschheit so wenige Menschen einen solch immensen Reichtum anhäufen konnten? Glauben wir noch an einen starken, gerechten Staat? Ist es nicht vielmehr so, dass die Politiker in unserem heutigen System bloß der bisherigen Oberschicht noch leichter und intensiver zuarbeiten können? Uns alle zu Gunsten weniger Bonzen faktisch versklaven?«
Mei und Chufu blickten sich zweifelnd an.
»Schaut doch genauer hin. Nehmen wir als weiteres Beispiel die neue Verordnung des europäischen Parlaments zur den Boni der Banken.«
Die beiden Asiaten schauten den Deutschen erstaunt fragend an.
»Das EU-Parlament hat beschlossen, dass die Banken nur noch Boni in Höhe eines Jahresgehalts ausrichten dürfen oder von höchstens zwei Jahresgehältern, wenn die Aktionäre ausdrücklich zustimmen. Dies schien auch ein riesiges Anliegen der Bevölkerung in der EU zu sein, wenn man den Journalisten Glauben schenken wollte. Die EU hat in diesem Sinne die gierigen Banker endlich in die Schranken gewiesen.«
Als er sah, dass die Beiden verstanden hatten, fuhr er fort.
»Spinnen wir diesen Faden einmal weiter und sehen, was als Konsequenz daraus entsteht«, meinte er geheimnisvoll, um ihre Neugierde anzustacheln, »falls die Bonuszahlungen ans Management tatsächlich sinken sollten, sparen die Banken im Gegenzug einen Haufen Geld. Dieses Geld wird zum größten Teil an die Aktionäre als zusätzliche Dividenden ausbezahlt. Doch der kleine Mann von der Straße ist kein Aktionär. Die Banken gehören bereits den Großkapitalisten, den reichen Erben der seit Generationen wohlhabenden Familien. Sie bekommen die bislang als Einkommen ausbezahlten Boni ihrer Bankangestellten dank großzügiger Hilfe aus Bruxelles als Sonderzahlung zugeteilt.«
Chufu wiegte seinen Kopf hin und her, gab dem Deutschen damit zu verstehen, dass er die Aussage zumindest abwägen wollte, ihr jedoch nicht sogleich zustimmen konnte.
»Aber auf den ausbezahlten Boni wurden bislang Sozialabgaben und Versicherungsprämien abgeführt und selbstverständlich auch noch hohe Einkommenssteuern. Dagegen werden Dividenden von den meisten Staaten privilegiert besteuert, können zum Beispiel mit Anlageverlusten verrechnet werden oder weisen einen geringen Höchststeuersatz auf. Doch die Völker in der EU nehmen diese weitere Ungerechtigkeit ihrer Staaten tatsächlich ohne Aufruhr und Widerstand hin. Letztendlich entzieht die neue EU-Verordnung den Rentensystemen der Gliedstaaten wichtige Sozialbeiträge und Steuereinnahmen, drückt diese Gelder den Reichsten auf Erden zusätzlich in die Hand. Und da redet noch jemand von Gerechtigkeit? Doch woher werden sich die Staaten die künftig fehlenden Einnahmen holen? Etwa bei den Milliardären dieser Welt? Mit Sicherheit nicht, wie uns die Erfahrung lehrt. Nein, diese Lücke wird man einmal mehr über noch höhere Mehrwertsteuersätze und noch geringeren Leistungen des Staates abgegolten, also auf dem Rücken der bereits heute gebeutelten Menschen.«
Er hatte sich nun in Rage geredet, fuhr sich mit der Zungenspitze nervös über die trocken gewordenen Lippen.
»Ich habe keine Lösung für eine gerechtere Welt. Doch der Einfluss des Staates auf die Gesellschaft sorgt auf keinen Fall für mehr Gerechtigkeit, sondern beschleunigt bloß den Geldtransfer von unten nach oben, wie die Statistiken über die Armut und den Reichtum in der Welt uns jedes Jahr von neuem vorrechnen und beweisen. Darum sehe ich persönlich nur eine Lösung. Wir müssen die Macht des Staates zurückbinden, müssen einen großen Teil seines Einflusses wieder aus unserem Leben entfernen. Erst in einer nicht mehr zwangsweise nivellierten Welt, die uns auf den ersten Blick ungerecht erscheint, hat die Mehrzahl der Individuen wieder echte Chancen für einen Aufstieg, die Reichen die tatsächliche Chance auf einen Abstieg. Ja, ihr müsst mich gar nicht so ungläubig anschauen. Alles, was ein Staat tatsächlich erreicht, ist doch die Nivellierung der Chancen der Chancenlosen, jedoch niemals Gerechtigkeit für alle. Der Staat zwingt die Masse der Menschen auf einen ähnlichen Nenner und nennt dies Gerechtigkeit, lässt dagegen die Oberschicht völlig unangetastet. Damit schafft er die besten Voraussetzungen, damit sich niemals etwas an der seit Jahrtausenden geltenden Ordnung ändert.