Tod und Schatten. Ole R. Börgdahl

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Tod und Schatten - Ole R. Börgdahl Marek-Quint-Trilogie

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richtigen Fall mehr zugeteilt bekommen. Sie halfen jetzt nur noch aus, übernahmen größtenteils Sekundärermittlungen, befragten Zeugen, werteten die Ergebnisse des Tatorterkennungsdienstes aus oder schrieben Berichte. Diese Sache hier würden sie wahrscheinlich auch abgeben, an ein erfahreneres Team abgeben, obwohl Thomas Leidtner ein erfahrener Ermittler war.

      Leidtner war ein richtiger Polizist, der nach seiner Ausbildung erst bei der Bereitschaftspolizei angefangen hatte und sich jeden Karriereschritt hart erarbeiten musste. So kam es Marek zumindest vor, wenn er den Gesprächen der älteren Kollegen zuhörte, den Kommissaren, die eine ähnliche Laufbahn hinter sich hatten. Ein studierter Polizist war da etwas, das nicht richtig passte, nicht zur Polizei passte. Aber sie wurden immer mehr und besetzten nach und nach die Stellen, die die richtigen Polizisten erst nach zehn oder fünfzehn Dienstjahren einnehmen konnten, wenn dann nicht schon jemand dort saß, jemand wie Marek. Gehobener Dienst bereits am ersten Arbeitstag.

      Marek drückte die Telefontaste. Das Telefon klingelte. Wenigstens war der Anrufbeantworter nicht eingeschaltet. Marek zählte mit, dreimal, viermal. Bei jedem weiteren unbeantworteten Klingeln wollte er auflegen, tat es aber nicht. Sieben. Es klickte, ein dumpfes Hallo, ein Schaben, dann war das Hallo klarer zu hören. Thomas Leidtner nannte seinen Namen, hatte offenbar keine Ahnung, wer ihn anrief.

      Marek musste sich räuspern. Er schluckte noch einmal. »Hallo Thomas, ich bin’s, Marek.«

      Sie duzten sich wenigstens noch, musste Marek denken, als er die Worte ausgesprochen hatte.

      Es dauerte ewige zwei Sekunden. »Hallo!«, antwortete Thomas tonlos, sonst nichts.

      Es vergingen wieder Sekunden, bis Marek erneut ansetzte. »Entschuldigung für die späte Störung. Was machst du gerade?«

      »Ich habe ein Bier stehen lassen.«

      »Ach, du bist unterwegs und nicht zu Hause.«

      »So sieht es aus.«

      »Das ist natürlich blöd.«

      »Ist bloß ein Alkoholfreies.« Thomas machte eine kurze Pause. »Haben wir einen Einsatz?«

      »Ja, das heißt ...«

      »Soll ich kommen?«, unterbrach Thomas Marek. »Wo bist du, worum geht es?« Leidtners letzte Worte wirkten jetzt etwas dynamischer.

      »Nein, ist schon fast vorbei hier.«

      »Was für ein Einsatz, Mord? Wer ermittelt?«

      »Ja, Mord. Bei einem Streifeneinsatz wurde eine männliche Leiche mit Schussverletzungen aufgefunden. Tatort ist ein Reisebüro in Friedenau, aber das ist noch nicht alles. Ich habe auch noch eine lebende Person vorgefunden.«

      »Du?«, fragte Thomas.

      Marek ärgerte sich über seine Formulierung, gab dann aber eine ausführliche Beschreibung der Ereignisse des Abends. Thomas hörte zu, bis Marek geendet hatte.

      »Und bis Montag führen wir die Ermittlungen?«, fragte er schließlich.

      »Warum nur bis Montag?«, entgegnete Marek.

      »Wäre ja mal was Neues«, stellte Thomas fest. »Ein Toter, eine Überlebende. Beide mit Schussverletzungen. Das hört sich doch nach einer größeren Sache an.«

      Dann sah Marek plötzlich seine Chance, ein gemeinsames Ziel. »Du hast recht, aber bis Montag haben wir ja noch genug Zeit, um Fakten zu schaffen.«

      »Fakten«, wiederholte Thomas. Seine Stimme klang erneut tonlos.

      »Ja, Fakten. Ich will bis Montag schon etwas vorlegen können. Leider ist die Identität des Toten noch unbekannt. Da sind wir auf die technischen Kollegen angewiesen. Bei der Frau haben wir zumindest einen Namen und eine Adresse. Dann noch der Tatort selbst. Wem gehört das Gebäude? Wer betreibt das Reisebüro? Wer arbeitet dort?« Marek räusperte sich. »Ich möchte, dass du schon einmal so viel wie möglich herausbekommst«, sagte er fest. »Über das Reisebüro und über diese Claudia Witte. Sie war bewusstlos, als ich sie gefunden habe. Mit etwas Glück können wir sie vielleicht schon morgen verhören. Da sollten wir vorbereitet sein.«

      »Und du willst heute noch etwas von mir hören?«, fragte Thomas.

      Marek wollte schon wieder einlenken, blieb dann zu seiner eigenen Überraschung fest. »Ja, trinke dein Bier aus, verabschiede dich von deinen Freunden und mach dich an die Arbeit. Ich fahre jetzt zum Krankenhaus.«

      Thomas hatte offenbar keine Einwände. »Was ist mit dem Tatort?«, fragte er stattdessen.

      »KHK Roose ist mit seinem Team noch hier. So schnell werden die nicht fertig. Wenn du die ersten Infos hast, können wir uns am Tatort treffen.«

      Thomas schien zu überlegen. Marek war sich nicht sicher, ob er seinen Kollegen mitgerissen hatte. Vielleicht klang es mehr nach Befehlen, als nach Vorschlägen, die er ihm unterbreitet hatte.

      »Gut, mal sehen was ich so finde«, erklärte Thomas schließlich. »Ich melde mich wieder.«

      Sie beendeten das Gespräch. Marek hielt sein Smartphone noch ein paar Sekunden am Ohr, nahm es herunter, schloss kurz die Augen und atmete dabei tief ein. Dann blickte er auf Ulrich Rooses Zettel, tippte die Nummer von Claudia Witte ins Telefon und ließ es klingeln. Er zählte diesmal nicht, gab es aber nach einer gefühlten Ewigkeit auf.

      *

      Auf seinem nächtlichen Weg zur Charité kam er an drei Berliner Sehenswürdigkeiten vorbei. Nachdem er den Großen Stern passiert hatte, ließ er die Siegessäule hinter sich und fuhr auf der Straße-des-17.-Juni dem Brandenburger Tor entgegen. Danach passierte er über die Ebertstraße und die Dorotheenstraße auch noch das Reichstagsgebäude. Als er schließlich die Spree überquerte, wurde aus der Wilhelmstraße die langgezogene Luisenstraße. Er fuhr fast einen Kilometer lang geradeaus und erreichte an der Nummer 65 den großzügigen Eingangsbereich der Rettungsstelle des Universitätsklinikums Charité-Mitte.

      Er parkte seinen Audi neben einem Krankenwagen und ging direkt unter der Leuchtschrift ins Gebäude. Er musste einer Rollstuhlfahrerin Platz machen, die ihm entgegenkam und die Rettungsstelle gerade verließ. Dann war er doch überrascht. Im Wartebereich zählte er ein gutes Dutzend Leute. Eine junge Frau mit einer bandagierten Hand lächelte ihn an. Marek lächelte zurück. Er sah sich noch einmal um, ging dann auf sie und ihre Freundin zu.

      »Entschuldigung, wo geht es hier zur Notaufnahme?«, fragte er die Frau mit dem Verband.

      »Das ist doch die Notaufnahme«, antwortete die Freundin an ihrer Stelle und schenkte ihm ebenfalls ein Lächeln.

      »Und wo meldet man sich an?«

      »Ach so«, sagte wieder die Freundin und zeigte auf eine Glastür am Ende des Ganges. »Da müssen Sie klingeln.«

      Marek bedankte sich. Er ging an den Wartenden vorbei, fand neben der Glastür den Klingelknopf mit dem Hinweis: Nach 23:00 Uhr bitte klingeln. Er sah auf seine Armbanduhr, es war tatsächlich schon Viertel vor zwölf. Dann klingelte er. Es dauerte eine halbe Minute, bis ihm der Summer die Tür öffnete. Im Empfangsraum saßen noch einmal vier Patienten. Marek ging direkt zum Tresen. Eine Krankenschwester hatte ihm bereits ein Formular und einen Kugelschreiber durch die Öffnung ihres Glaskastens geschoben. Marek schüttelte den Kopf und zeigte ihr seinen Polizeiausweis.

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