Stiefbrüder küsst man nicht. Eva Markert
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Er wollte übrigens Medizin studieren. Die bedauernswerten Menschen, die später als Patienten zu ihm kommen würden, taten mir leid. Wahrscheinlich würde er sie anblaffen, was ihnen einfiele, krank zu werden und ihn zu belästigen.
Annika fand es natürlich großartig, dass er Arzt werden wollte. Das hieß allerdings nicht viel. Sie wäre bestimmt auch überwältigt gewesen, wenn er als Berufswunsch Fliegenfänger angegeben hätte.
Nachdem sie mit der Wahrheit rausgerückt war, hatte ich keine Ruhe mehr. Sie redete über nichts anderes als über Dominik.
Schon vor der Schule musste ich ihre Fragen beantworten. Ob es was Neues von Dominik gäbe. Was in drei Teufels Namen sollte es von einem Tag auf den anderen schon großartig Neues geben? Was er gemacht hätte, wollte sie wissen. Nicht viel, außer mir wie jeden Tag auf die Nerven zu gehen. „Glaub mir, der Kerl ist ätzend“, beschwor ich sie. Doch meine Worte stießen auf taube Ohren. Ob er was Interessantes gesagt oder gefragt hätte, bohrte sie weiter. Damit meinte sie natürlich, ob er über sie gesprochen oder nach ihr gefragt hätte. Leider musste ich sie da stets enttäuschen.
Jede Pause konnte ich mir nun anhören, wie attraktiv und supercool er war. Sie baute sich an einer bestimmten Stelle auf dem Schulhof auf: oben auf der Treppe zum Haupteingang, an einem der Pfeiler. Von dort aus hatte man den besten Überblick über den Schulhof. Ich sollte mit gucken, ob er irgendwo auftauchte. Na danke! Mir reichte es vollkommen, dass er mir zu Hause andauernd über den Weg lief!
Sobald er erschien, wurde sie tomatenrot im Gesicht. Sie zog mich mit sich fort, um „gaaanz unauffällig“ an ihm vorbeizuflanieren. „Hi, Dominik“, rief sie ihm mit dieser fremd klingenden Stimme zu, die viel höher war als ihre normale Stimme. Zu meinem Erstaunen grüßte er zurück. Manchmal grinste er sie sogar an.
Ich begann zu überlegen. Könnte es sein, dass Dominik in sie verschossen war? Oder zumindest dabei war, sich in sie zu verlieben?
Als sie eines Samstags zu uns kam, kriegte ich einen Schreck. Selbst ich fand, dass sie mit ihrem Make-up übertrieben hatte. Ihr Gesicht war viel zu dunkel geschminkt, auf ihren Wangen prangten zwei rote Flecke, und sie hatte violetten Lidschatten aufgetragen. Am schlimmsten aber war der Mund mit dem grellroten Lippenstift. Sie hatte die Lippenränder mit einem Konturenstift nachgezeichnet und versucht, den Mund größer erscheinen zu lassen. Nun sah es aus, als hätte sie übergemalt. Wenn sie meinem Stiefbruder so über den Weg lief – und die Gefahr war ziemlich groß –, würde er garantiert eine dumme Bemerkung machen!
„Schnell“, rief ich. „Komm mit ins Badezimmer. Du musst dein Make-up abwaschen.“
„Wieso?“, protestierte Annika.
„Du siehst aus ...“ Beinahe hätte ich gesagt: als ob du gleich im Zirkus auftreten wolltest. Als Clown. „Das sieht nicht besonders gut aus“, verbesserte ich mich schnell.
Aber Annika wollte nichts abwaschen. Sie beharrte darauf, dass ihr das Make-up hervorragend stünde.
Wir debattierten noch im Flur, als ich hörte, wie sich Dominiks Tür öffnete. Gleich darauf kam er die Treppe heruntergesprungen. „Schicksal, nimm deinen Lauf“, dachte ich resigniert.
Doch es kam anders, als ich erwartet hatte.
„Hi, Dominik“, rief Annika mit dieser hohen, fast schrillen Stimme. „Merle findet, dass ich zu stark geschminkt bin. Was meinst du?“
Mir wurde schwarz vor Augen.
Er blieb einen Augenblick stehen und musterte sie. Ich wappnete mich innerlich.
„Ist okay“, sagte er und lief weiter.
Triumphierend schaute Annika mich an. Und ich, ich verstand die Welt nicht mehr!
Diese Sache beschäftigte mich dermaßen, dass ich ihn einfach fragen musste. Abends klopfte ich bei ihm an. Er antwortete nicht, also stieß ich die Tür auf. Er lag auf seiner Schlafcouch, hatte Stöpsel in den Ohren und hörte Musik von seinem MP3-Player. Als ich plötzlich im Türrahmen stand, fuhr er hoch. „Was fällt dir ein, hier einfach reinzuplatzen?“
„Ich habe geklopft.“
„Aber ich habe nicht ‚Herein‘ gesagt. Geh weg! Du störst.“
„Wobei? Beim Nichtstun?“, entgegnete ich schnippisch.
„Ich habe nachgedacht.“
„Das tut mir aber leid, dass ich deine hochgeistigen Gedankenflüge unterbrochen habe“, höhnte ich.
So war das bei uns. Wir konnten kein Wort wechseln, ohne sofort in Streit zu geraten.
„Was willst du überhaupt?“, fragte er mich barsch.
Eigentlich wollte ich gar nichts mehr, sondern hätte am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht. Der Kerl sollte sich nur ja nicht einbilden, dass er und seine Meinung mir wichtig wären. Aber nun hatte ich schon mal den ersten Schritt getan. Und es interessierte mich tatsächlich brennend. Also erkundigte ich mich: „Fandest du Annikas Make-up tatsächlich in Ordnung?“
„So genau habe ich nicht hingeguckt.“
„Na hör mal! Sie hat dich doch extra darauf angesprochen.“
„Soweit ich gesehen habe, sah sie okay aus.“
Ich spürte Ärger in mir aufkommen. „Das musst du mir allerdings erklären“, begann ich.
„Ich muss dir überhaupt nichts erklären“, fiel er mir ins Wort.
Ich ging darüber hinweg. „Als ich mich neulich geschminkt habe, hast du gesagt, ich würde dich an einen Zirkusclown erinnern.“
Das schien ihn selbst zu überraschen. Einen Augenblick blieb er stumm. „Du bist nicht Annika“, antwortete er schließlich.
„Was soll das heißen? Dass es bei Annika gut aussieht und mir nicht, oder was?“
„Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mehr genau, wie es bei dir und Annika aussah.“
Ich war verwirrt. Bedeutete das, dass er bei mir genauer hinguckte als bei Annika? Ich wollte gerade nachhaken, als er hinzufügte: „ Und jetzt zieh Leine.“ Ich sah seinen Blick und zog es vor, genau das zu tun.
Nun legte ich mich meinerseits aufs Bett und überlegte. Es hatte den Anschein, dass er, wenn es um mein Äußeres ging, strengere Maßstäbe anlegte als bei Annika. Warum? Weil ich zur Familie gehörte? Denn das tat ich ja, ob es ihm nun passte oder nicht. Wahrscheinlich wollte er sich nicht für mich schämen müssen. Mehr steckte sicher nicht dahinter. Oder drückte er bei Annika beide Augen zu, weil er eine Schwäche für sie hatte?
Der erzählte ich übrigens nichts von diesem Gespräch. Aber ich begann meinen Stiefbruder zu beobachten. Hielt er auf dem Schulhof Ausschau nach ihr? Freute er sich, wenn er sie sah? Und wenn sie bei uns war,