Morgenrosa. Christian Friedrich Schultze
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Bei dem regen Geschlechtsverkehr, den sie miteinander trieben, müsse es einfach ein temperamentvolles und lebensfrohes Kind werden. Zu anderen Zeiten saß sie, wenn sie bei Wauer war, stundenlang ruhig im gut gepolsterten Korbswinger und hörte Musik aus seiner üppigen Plattensammlung, die er vom Boden des Hauses, in dem seine Mutter noch wohnte, zurückgeholt hatte. Er hatte von seinen Ausflügen nach Budapest und Prag stets Ausgaben westlicher Rockmusik mitgebracht, die es in der DDR nur ganz selten legal zu kaufen gab. Dafür leistete er sich hier viele der außerordentlich guten Aufnahmen des klassischen Repertoires, die neuerdings in so genannter DMM-Qualität auf die schwarzen Vinylscheiben gepresst wurden. Helga glaubte, dass Musik jeden Genres förderlich für ihr Baby wäre. Die Wissenschaft war geteilter Meinung, ob Musik überhaupt irgendeine Wirkung auf Föten ausübe.
7.
In Wauers Projektierungsabteilung wie auch in der Kombinatsleitung herrschte nach seiner Rückkehr von seiner einwöchigen Dienstreise in die ungarische Hauptstadt, um die ihn der eine oder andere beneidet hatte, zunächst kollegiale Freundlichkeit und gute Atmosphäre. Wauer erzählte dem Chef Manfred Schäfer, der von allen Leitungsmitgliedern nur „M.S.“ genannt wurde, von seinen Erlebnissen mit den ungarischen Kollegen und unterbreitete seine Arbeits- und Verhandlungsergebnisse. Auch mit anderen Kollegen wurde über Budapest, seine freiheitliche Atmosphäre und seine ziemlich eigenständige Politik im Rahmen des Comecon gegenüber dem Westen diskutiert.
Natürlich fuhren auch andere Ostberliner, so oft es sich bei all den Umständen einrichten ließ, dorthin ein Visum und vor allem Umtauschbescheinigungen für ein paar Forint zu bekommen, gerne in die ein weltoffenes Flair verströmende ungarische Metropole oder an den beliebten Plattensee mit den zahlreichen Weinhöhlen an seinem Nordufer. Gerade auch deswegen waren viele Kolleginnen und Kollegen an den Erlebnissen interessiert, die einer, der sogar auf Betriebskosten dorthin reisen durfte, dabei gehabt hatte. Wauer gab gern und eloquent Auskunft, verschwieg dabei aber vor allem seine Begegnung mit seinem Cousin Robert und seine wilde Nacht mit dieser Susza, der musizierenden Edelnutte, im Rundhotel „International“.
Nachdem seit seiner Rückkehr etwa drei Wochen vergangen waren, geschah etwas, das Wauer innerlich aufhorchen ließ und das er als eher ungewöhnlich einstufte. Er wurde vom Kaderleiter, Genossen Uwe Singer, zu einer Unterredung eingeladen. Dessen Dienstzimmer in der vierten Etage des Verwaltungsgebäudes war ziemlich spartanisch eingerichtet, sah man einmal von dem großen Schreibtisch und dem ebenso überdimensionalen Besprechungstisch, an dem mindestens zwölf Kollegen Platz finden konnten, ab. Beide waren, ebenso wie die Wandregale und die beiden Aktenkleiderschränke, in originaler Esche furniert, die allerdings schon ziemlich nachgegilbt wirkte. Diese Möbel entsprangen schlichter, aber gediegener Tischlerarbeit, die man so heute nur noch in Einzelanfertigung bekam und die deshalb von den üblichen Spanplatten-Büromöbeln angenehm abstachen. Über allem hing in noch größerer Ausführung als üblich das Farbfoto des Parteiführers Erich Honecker.
Singer bedeutete Wauer, nachdem sie sich wie gewöhnlich begrüßt hatten, dass er am großen Besprechungstisch Platz nehmen solle und setzte sich ihm ohne irgendwelche Papiere oder Unterlagen gegenüber.
„Na, Spaß gehabt in Budapest?“, fragte er, die Unterhaltung beginnend.
„Klar doch, in Budapest immer, weißt du doch, Uwe.“
„Haben sie dich wieder mit ihrem Tokayer traktiert?“
„Nee, ich trinke doch keinen so schweren Weißwein. Kati und Ferenc wussten das noch. Deshalb gab es guten trockenen Rotwein, manchmal Birnenschnaps dazu; merkwürdige Mischung“, erwiderte Wauer.
„Und - seid ihr mit allem klar gekommen. Werden sie uns die Projekte und die Baugruppen rechtzeitig liefern können?“
Wauer stutzte. Seit wann interessierte sich der Herrscher über die Personalakten für Einzelheiten der Produktion und der Projektierung? Er würde in der nächsten Leitungssitzung ohnehin erfahren, wie es um die Planerfüllung und die Vertragserfüllungen stand und sich wie immer dabei langweilen.
„Unterschriftsreif war jedenfalls alles, was wir mit ihnen vereinbart haben. Nun müssen noch die großen Chefs ran. M.S. muss ja die Sache auch noch vom Außenministerium absegnen lassen“, antwortete er vorsichtig.
„Hast du ´ne Ahnung, warum sie dich ausgerechnet ins Rundhotel einquartiert hatten?“, fragte Singer plötzlich.
„Wieso, da waren wir das letzte Mal doch auch?“
„Das ist zwei Jahre her!“, bemerkte Singer.
„Ja und? Ist was passiert in den zwei Jahren?“
„Vieles“, meinte Singer jetzt gedehnt. „Besonders in Polen. Hat man dich da angequatscht? Neuerdings verkehren dort, wie man hört, auch viele Westler und reichlich Nutten.“
„Mich hat niemand angequatscht“, sagte Wauer trocken. „Allerdings habe ich einen Abend in der Himmelsbar verbracht und mit einigen schönen Ungarinnen geflirtet. Die meisten haben ja mal bei uns gearbeitet oder studiert und sprechen ganz gut deutsch.“
„Und verdienen sich bisschen Westgeld nebenbei“, ergänzte Singer.
Wauer spitzte die Ohren. Hatten sie ihn doch überwacht? Wussten sie mehr oder sogar alles? Aber wenn sie wirklich etwas wussten, dann hätten sie ihn bereits ganz anders in die Mangel genommen. Es musste um etwas anderes gehen.
„Mann, weißt du wie viele Mädchen sich hier im Domhotel oder zur Messe in Leipzig ein paar blaue Kacheln3 dazu verdienen. Sex ist eben ein sicheres Geschäft und kann ganz ohne besondere Diplome und Prüfungen betrieben werden. Ist ja auch irgendwie bemerkenswert, dass Manager aller Länder und besonders der oberen Etagen so gern ´rumvögeln. Dann hätten wir eben keine Intershops aufmachen dürfen“, deklamierte er ungehalten.
„Na, reg dich nicht gleich auf, Martin. Du weißt doch, dass du im sicherheitsrelevanten Bereich arbeitest. Da unterstehst du nun mal besonderen Regeln.“
„Klar, weiß ich das! Sagt irgend jemand, dass ich sie breche oder gebrochen habe?“ Wauer wollte es wissen. Am besten, wenn das jetzt geklärt wurde.
„Sagt niemand. Aber unser Bau in Lichtenberg erregt, sagen wir mal, auch internationales Interesse. Ich brauche dir doch nicht zu erklären, dass der Westen genau wissen möchte, wo wir stehen“, entgegnete Singer.
„Wenn wir schon mal was mit Weltniveau bauen, haben wir die Schweden oder Finnen doch sowieso dabei.“
„Klar doch. Aber wir müssen dennoch vorsichtig sein. Und es geht ja auch gar nicht nur darum, dass es irgendwelche Agenten erfahren, sondern dass unser Laden nicht in den Verruf kommt, dass er Kollegen mit Sicherheitsrisiko beschäftigt.“
„Mann, Uwe, nun lass´ doch die Katze aus dem Sack. Du kannst doch tacheles mit mir reden, ich bin doch nicht der Klassenfeind!“ Wauer war jetzt klar, woher der Wind wehte. Sie hatten herausbekommen, dass er sich mit Robert schrieb oder irgendwas in dieser Richtung, Prag, Großschönau, Warschau. Hoffentlich nicht sogar Budapest!
„Also, es ist so“, begann Singer, „man überprüft uns gerade wegen des Lichtenberger Baus. Und da haben wir festgestellt, dass du einen Vetter in Dingsda, in München hast, mit dem du dich sogar hin und wieder schreibst und den du voriges Jahr auch in Polen getroffen hast. Und das finden die Genossen von der Sicherheit überhaupt nicht so