Morgenrosa. Christian Friedrich Schultze
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„Es besteht wohl hier allgemein kein Zweifel, dass ich stets für den Frieden und die Erhöhung der Arbeitsproduktivität in unserem Staat eintrete. Besonders übrigens für die Verbesserung der Arbeitsmoral!“, hörte er sich plötzlich sagen, erschrak sogleich leicht wegen des sarkastischen Tons, den er angeschlagen hatte und bemühte sich dann, den Stasimann anzulächeln.
„Ja, ja“, sagte dieser gelangweilt, „das hörte ich ja eben schon. Die Frage, die mich interessiert ist, ob du nicht noch mehr für unsere Republik tun kannst. Seit dem KSZE-Prozess legt unsere Partei- und Staatsführung, wie du ja wohl weißt, gesteigerten Wert auf engagiertere Mitarbeit vor allem kritischer Leute, sofern ihre Kritik konstruktiv ist. Das ist manchmal nicht so leicht zu unterscheiden, ob es sich um subversive Diskussion oder um vorwärts bringende Beiträge handelt.“
„Was denn mehr? Ich engagiere mich schon immer mehr als viele andere. Manche reden auch nur sozialistisch daher. Wenn man dann guckt, was sie für Arbeit abliefern, hält sie leninschen Forderungen eher weniger stand“, erwiderte Wauer, Sicherheit gewinnend.
„Ja, die leninschen Prinzipien. War ein bisschen schwierig, die Sache zwischen Lenin, Trotzki und Stalin. Vielleicht war es ganz gut, dass es Dzerzhinsky und Berija gab. Was meinst du?“, erwiderte der Genosse der Firma und grinste.
„Na ja, Stalin und Berija haben im Spiegel der Geschichte wohl nicht gerade für den wirklichen Sozialismus gestanden“, gab Wauer, im vollen Bewusstsein, dass er sich damit auf einen schmalen Grat begab, kampflustig zurück. Nikita Chruschtschow sollte zum 20. Parteitag der KPDSU nicht umsonst mit diesen beiden abgerechnet haben.
„Wir brauchen auch keine Duckmäuser heutzutage. Aber die Welt ist schlecht und der amerikanische und westdeutsche Imperialismus sind noch immer stark. Sie zwingen uns zu Rüstungsanstrengungen, die wir dringender für die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern benötigen würden. Und sie nehmen über die Medien und alle möglichen anderen Kanäle Einfluss auf unseren Staat. Du siehst ja, was gerade in Sachen „Lutherjahr“ und Raktenbeschluss läuft. Das sind Dinge, die gar nicht spaßig sind. Und manche sind auch bisschen naiv in ihrer Vorstellung, was da seit dem Papstbesuch in Polen und Reagens Berlinbesuch wirklich läuft. Nachdem, was mir der Genosse Singer erzählte, als ich ihn fragte, erscheinst du manchmal etwas blauäugig. Kann das sein?“
„Wenn ich geradlinig bin, muss das ja nicht blauäugig sein, oder woraus schließt man sowas? Findest du mich auch naiv, Fritz?“
Der gutmütige neue Parteisekretär wand sich fast sichtbar in dieser unangenehmen Situation. „Ich mag ja, dass du manchmal so heißblütig bist. Viele andere sagen gar nichts oder nicht das, was sie denken“, äußerte er schließlich.
Es entstand eine Pause.
„Unser Verein möchte dich zur Mitarbeit haben“, sagte der namenlose Genosse plötzlich ohne Übergang. „Du hast einen Cousin in München, der arbeitet bei so einer großen Chemiebude. Du schreibst dich mit ihm, wie wir wissen, und hast dich voriges Jahr in Warschau mit ihm getroffen. Du arbeitest hier aber in einem sicherheitsrelevanten Bereich und niemand weiß, für wen dein Cousin noch tätig ist. Also musst du die Verbindung zu ihm abbrechen oder dich dem Staat gegenüber so verpflichten, dass wir was von ihm erfahren, er aber nichts über diesen Betrieb hier.“
„Ich habe nicht die Absicht, Geheimagent zu werden!“, warf Wauer nach kurzer Überlegung ein. Außerdem liegt meine persönliche Geheimhaltungserklärung bereits in der Kaderakte. Wenn ich dagegen verstoßen würde, hätte das ja wohl arbeitsrechtliche und sogar strafrechtliche Konsequenzen.“
„Das meine ich doch nicht!“, fuhr der Genosse unwirsch dazwischen. „Es geht darum, verlässlichere Informationen über die Zuverlässigkeit bestimmter Genossen und Kollegen zu erhalten und darüber, wie unser sozialistischer Bewusstseinsstand wirklich ist. Was drüber in den Zeitungen steht, wissen wir schon.“
Jetzt war es also heraus. Wauer überlegte hektisch. Was konnte er ihnen schon sagen, was sie noch nicht wussten? Was passierte, wenn er eine Zusammenarbeit ablehnte? Gab es irgendeine schlaue Ausrede, die ihn aus dieser Situation herausbringen konnte. Denn eins wusste er aus seinen Gesprächen mit Weißheimer, dass eine Arbeit für die Stasi jegliche persönliche Freiheit zum Erliegen brachte. Er konnte nicht mehr reisen, wie er wollte, nicht einmal mehr im Ostblock. Er konnte sich nicht mehr mit Robert in Prag oder gar in Berlin treffen. Und über wen sollte er wohl berichten? Zum Beispiel auch über Freunde, Kollegen, seine Geliebte und seine Exfrau?
Gesprächssplitter mit Greif fielen ihm ein. Und eine Bemerkung seines Vaters, der fünf Jahre bei den „Bolschewiken“, wie er sie unbeirrt und unbelehrbar konstant benannt hatte, in Gefangenschaft gewesen war: „Trau´ den Bolschewiken nicht, mein Großer“, hatte er einmal in einem Anflug von Mitteilsamkeit zu ihm gesagt, „die haben sich alle gegenseitig umgebracht. Nur Stalin ist geblieben. Denen kannst du nur entkommen, wenn du stur und herrschsüchtig ´njet´ sagst. Das verstehen sie und akzeptieren es sogar meistens, denn sie sind Russen.“
„Ich glaube nicht, dass ich euch was nützen kann. Und ich habe auch, ganz ehrlich, keine Lust für eine solche Arbeit. Ich kann mich nur noch einmal verpflichten, keinerlei Betriebsgeheimnisse nach draußen zu geben, was eigentlich selbstverständlich ist“, sagte Martin Wauer dann bedächtig. „Aber ansonsten möchte ich mich hier auf meine Arbeit konzentrieren, das nützt unserer Gesellschaft, glaube ich, am meisten.“
Der Mann von der Normannenstraße lächelte fast unmerklich, sagte aber nichts. Fritz Rauch sagte: „Du brauchst doch gar nicht mehr zu tun, als hin und wieder über Stimmungen und Meinungen in deinem Umfeld zu berichten.“
„Das ist doch wohl deine Aufgabe als Parteisekretär unserer führenden Partei. Denn das ist ja wohl auch der Sinn von Politik, Stimmungen und Meinungen der Bevölkerung zu analysieren und ernst zu nehmen“, entgegnete Wauer mit heftigerem Tonfall, als er eigentlich gewollt hatte.
„Ja, klar“, sagte der Stasimann, „aber es geht um mehr. Deshalb wäre es schon gut, wenn du mir, bevor wir den Konvent aufheben, wegen der Geheimhaltungsfragen hier mal was unterschreiben würdest.“ Dabei schob er Wauer ein Papier im A-5-Format und einen Kugelschreiber herüber und sah in kalt an.
Wauer nahm sich trotz seiner inneren Aufregung die Zeit, den kurzen Text durchzulesen. Die Note lautete, dass er, der Unterzeichner, sich verpflichtete, als informeller Mitarbeiter Stillschweigen über seine Tätigkeit gegenüber jedermann zu üben. Das genau also wollte dieser Genosse von ihm! Er wusste, wie in einer plötzlichen Erleuchtung, dass er auf keinen Fall unterschreiben durfte.
Er blickte eine Weile vor sich hin, bevor er sagte: „Ich werde weder informeller noch direkter Mitarbeiter deines Ministeriums. Dafür sind andere zuständig.“ Es war ein klares „Njet“.
„Na gut, wenn du es dir noch überlegst, kannst du ja Bescheid geben. Wir brauchen nämlich genau solche Leute, wie dich. Oder ist deine Loyalität zur Partei doch nicht so unumstößlich, wie deine Genossen hier behauptet haben?“, sagte der Namenlose leise und ruhig, aber mit sarkastischer Schärfe in der Stimme. „Du kannst wieder an deine wichtigere Arbeit gehen. Ich habe mit dem Genossen Rauch noch was anderes zu bereden.“
Martin Wauer verabschiedete sich steif. Ihn erfasste ein Gefühl, bei dem er sich wie neben sich stehend empfand. Zu Fritz Rauch sagte er mit trockenem Hals: „Du könntest ja dann vielleicht noch bei mir vorbei kommen.“
Der Parteisekretär sagte nichts und Wauer verließ das Zimmer.
Fritz Rauch war am darauffolgenden