Morgenrosa. Christian Friedrich Schultze
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„Ja, wir wollen ins Naturkundemuseum“, riefen beide fast gleichzeitig.
„OK, und dann? Könnt ihr Skat spielen?“, hakte Wauer nach. „Wie alt bist du?“, fragte er zu Jakob gewandt.
„Ich werde zwölf.“
Zehn und zwölf, dachte Wauer, das ist nicht so schlecht. Wenig später vernahm er, dass Jakob der Sohn des neuen Freundes seiner Geschiedenen war. Sie fuhren ins Naturkundemuseum in der Invalidenstraße, immer eine große Attraktion für Groß und Klein, und verbrachten dort die Stunden bis zur späten Mittagszeit. Er selbst spielte nur eine unwichtige Rolle.
Die beiden Freunde amüsierten sich in den verschiedenen Abteilungen des Museums und kamen nur hin und wieder zu ihm zurück, wenn sie eine besondere Frage hatten. Es beglückte ihn, dass er ihnen Rede und Antwort stehen konnte. Dann hatte er die Idee, dass er sie ins Fernsehturm-Restaurant einladen könnte. Als sie aber, nachdem sie dort mit der Linie 11 angelangt waren, die langen Menschenschlangen am Eingang warten sahen, entschieden sie sich lieber für den Ratskeller im Roten Rathaus, der nach einigen Überredungskünsten Wauers noch Platz für die Drei anbot. Erst am späten Nachmittag trafen sie in Wauers Wohnung am S-Bahnhof Warschauer Straße ein. Er machte Tee für die Jungen und schüttete Spekulatius in eine Schale. Sie fraßen, als hätten sie nicht soeben ausgiebig zu Mittag gegessen. Dann versuchte er, ihnen Skat beizubringen.
„Ein Junge muss einige wichtige Sachen können“, erklärte er. „Eine davon ist Skatspielen. Ein Junge, der nicht Skat spielen kann, wird kein Mann“, meinte er und vergaß das Augenzwinkern dabei nicht. Beide stellten sich nicht dumm an, wollten aber nach einer Stunde Westfernsehen.
„Ist auch nicht besser, als unseres“, bremste er, stellte es aber an. An diesem Sonnabendabend lief im ZDF Ilja Richters Disco. Die Jungen fanden es sehr aufregend. Wauer servierte ihnen Apfelsaft und Selters und trank seinen Wodka-Cola. Nach einer Weile wollten sie davon kosten. Er machte für jeden ein kleines Glas zurecht und trank mit ihnen Brüderschaft und auf ewige Freundschaft. Er erzählte dabei von Old Shatterhand und Winnetou und sie fanden es gut. Er versprach, ihnen den Band „Winnetou I“, welchen der Verlag Neues Leben gerade für die DDR herausbrachte, zu besorgen. Zehn Uhr brach Wauer ab und baute für die Beiden aus Luftmatratzen und Schlafsäcken ein Lager an der Fensterseite. Er selbst klappte seine Bettcouch aus. Sie waren schnell eingeschlafen. Er selbst blieb noch lange wach und staunte darüber, wie einfach alles gewesen war und wie natürlich es ablief. Dass Jakob mitgekommen war, hatte es ungemein erleichtert.
Am Sonntagmorgen bereitete er das Frühstück, für das er umfangreich eingekauft hatte. Er ließ sich und seinen jungen Gästen Zeit und sie kamen ins Reden. Er erfuhr vieles, was er in den vergangenen Jahren verpasst hatte; über Lothars Fortschritte in der Schule, seinen Zensurenstand in den einzelnen Fächern, die neue Arbeit seiner Mutter im Frankfurter Halbleiterwerk und über Jakobs Vater, den neuen Freund Barbaras. Er bemühte sich, entspannt zu bleiben. Es ging Lothar nicht schlecht. Der Junge hatte das Scheidungstrauma anscheinend einigermaßen überwunden.
„Fahren wir im Winter zusammen weg?“, fragte Lothar dann.
„Ja, wieso nicht. Wohin willst du denn?“
„Wir könnten in die Niedere Tatra zum Skilaufen fahren, da soll es sehr schön sein.“
„Und woher weißt du das?“
„Hat Wolfgang erzählt.“ Wolfgang war Jakobs Vater.
„Warst du schon dort?“, fragte Wauer an Jakob gewandt.
„Ja, schon zwei Mal“, antwortete Jakob. „War wirklich schön und es gab viel Schnee.“
„Habt ihr da ein Quartier?“
„Ja, haben wir, ich weiß aber nicht genau, wo es ist. Da musst du Vater fragen.“
„OK, ich frage ihn.“
„Ich will aber nur mit dir dahin“, sagte Lothar plötzlich.
„Ist schon klar“, entgegnete Wauer. „Aber bis dahin ist ja noch eine Weile Zeit. Erstmal kommt Weihnachten. Was machen wir Weihnachten?“
Lothar druckste einige Sekunden herum.
„Ich kann ja Silvester nach Berlin kommen. Da ist es bei Mutter sowieso immer langweilig“, sagte er dann.
Wauer musste innerlich lächeln. So würde es in Zukunft vermutlich immer laufen. Der Junge würde sich schon seinen Teil holen. Er würde die Möglichkeiten des Getrenntseins seiner Eltern so gut wie möglich für seine Zwecke zu nutzen wissen. Opportunismus blieb das erfolgversprechendste Überlebensprinzip.
„OK, wir besprechen das noch mit Mama.“
Sie machten an diesem schönen Spätsommervormittag noch einen Ausflug auf den Trümmerberg in den Friedrichshain und an die dortigen Kioske, wo sie Bratwurst aßen, Berliner Weiße und Limo tranken, bevor sie nach Karlshorst fuhren, damit die Jungs in den Zug nach Frankfurt-Oder steigen konnten.
Nur beim Abschied auf dem Bahnsteig bemerkte Wauer beim Sohn die gleiche Unsicherheit, die ihn selber plötzlich erfasste. Es war ein merkwürdiges schmerzhaftes Gefühl in der Zwerchfellgegend, dass erst nach einigen Stunden vorüber ging. In den folgenden Monate, bei den späteren Treffen, verflüchtigten sich diese Beklemmungen von Mal zu Mal mehr.
2.
„Genosse Wauer, du weißt sicher, dass du hier im Betrieb von den Genossen und Kollegen sehr geschätzt wirst“, begann der namenlose Mann, der zwanglos an Uwe Singers mächtigem Besprechungstisch lümmelte und Martin Wauer eingehend musterte, ohne irgendwelche Zurückhaltung zu üben. Der Kaderleiter selber war nicht anwesend, obwohl er diesen Termin durchgestellt hatte. Dafür nahm der neue Parteisekretär an der schon Ende August avisierten Besprechung teil.
Der Verbindungsmann, der hier für den Betrieb die DDR-Staatssicherheit repräsentierte, hatte sich nicht vorgestellt und Wauer wunderte sich darüber, dass alle, auch er selbst, diese Machtdemonstration wie selbstverständlich über sich ergehen ließen. Niemandem, auch ihm nicht, würde es einfallen, den Genossen von „der Firma“, wie man diese Behörde, wenn man unter sich war, im allgemeinen Umgangston flapsig betitelte, zu bitten oder gar aufzufordern, sich vorzustellen.
„Na ja, dass ich nach all den Jahren nicht gerade unbeliebt bin, weiß ich“, entgegnete er, indem er sich bemühte, seine Abneigung nicht zu zeigen.
„Du wirst auch besonders wegen deiner konstruktiv kritischen und direkten Art gelobt, vor allem vom Genossen Schäfer“, fügte der sehr korrekt gekleidete, mittelgroße, vierschrötige Mann hinzu. Ein großer Kopf mit schlohweißem Haar krönte seinen massigen Leib. Seine Aussprache war die, die Wauer von in Berlin eingewanderten Schlesiern kannte, und er rollte das „R“ in der charakteristischen Art dieser Landsleute. Der Stasimann mochte schon über sechzig Jahre alt sein, genau ließ sich das nicht ausmachen, da er ein glattes Gesicht mit nur wenigen Fältchen um Mundwinkel und Augen und den rötlichen Teint östlicher Bauersleute hatte. Der Tschekist wirkte nicht unfreundlich, jedoch lächelten seine Augen nicht, wenn er sprach.
„Der Genosse Wauer übt meist die heftigste Kritik in Bezug auf Mängel, die die Arbeitsproduktivität in unseren Bereichen betreffen. Er wurde schon zwei Mal als Aktivist und einmal zusammen mit seiner Brigade als Kollektiv der sozialistischen Arbeit ausgezeichnet“,