Morgenrosa. Christian Friedrich Schultze
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Er schloss ab und verabschiedete sich kurz von Frau Wolfhardt, der Bereichssekretärin, sagte ihr, dass er noch etwas in der Karl-Marx-Allee zu besorgen habe und stieg die Treppen der zwei Stockwerke hinunter. Er wandte sich aber nicht in Richtung U-Bahnhof Luxemburg-Platz, sondern verließ den Betriebskomplex auf der anderen Seite, ging die Max-Beer-Straße hinüber, überquerte die Karl-Liebknecht-Straße und ging dann am riesigen Quartier des „Hauses der Elektrotechnik“ und über die Kreuzung am „Haus des Reisens“ vorbei, um auf die Karl-Marx-Allee zu gelangen.
Im Kino International lief „Die Weiße Rose“ von Michael Verhoeven. Er hatte den Film noch nicht gesehen, wollte aber unbedingt noch hin, vielleicht zusammen mit Helga. Er blieb auf der linken Straßenseite, um hin und wieder einen zwischen den Häuserschatten hervorlugenden Sonnenstrahl zu erwischen und überquerte dann den Strausberger Platz. Hinter ihm im Westen waren einige rosa Streifen am Himmel zu sehen. Die wenigen Bäume an der Magistrale nach Osten hatten noch Blätter, welche in schöner Herbstfärbung prangten.
Er überlegte, dass er immer noch in die U-Bahn steigen konnte, wenn ihm der Weg bis zum Frankfurter Tor und die Warschauer Straße hinunter bis zur Libauer Straße zu weit würde.
Seine innere Unruhe legte sich beim Laufen nicht. Denn seine Gedanken kreisten unablässig um die Frage, welche Konsequenzen sein „Njet“ haben könnte. Er beruhigte sich mit der Überlegung, dass die Stasi schließlich nicht die Staatsmacht sei und die Partei über ihr stehe. Man hörte manchmal Gerüchte, dass ihr Einfluss auf die Lebensläufe Widerspenstiger bis in die Familien hineinreichen würde. Aber die Stalinzeit, in der Leute, die Kritik anmeldeten, von der Straße weg einfach auf Nimmerwiedersehen verschwinden konnten, war vorbei. Die politischen Ereignisse in Polen und Ungarn, die KSZE-Verhandlungen und die Ost-Westgespräche hatten bereits mehr Bewegungs- und Informationsfreiheit gebracht.
Dass ein kleiner Bauprojektant nicht für den DDR-Geheimdienst arbeiten wollte, würde die Firma nicht aus der Bahn werfen. Selbst das Wissen über seine Beziehungen zu seinem Vetter musste ihn nicht über Gebühr besorgt machen, denn so interessant konnte er für die Partei- und Staatsführung gar nicht sein, dass sie außer den normalen Checks wegen seiner speziellen Tätigkeit große Überwachungsprojekte starten würden. Er beschloss, darüber mit Helga zu reden. Durch ihren Mann hatte sie ein paar Erfahrungen in solchen Dingen.
Wauer benutze ab Magdalenenstraße nun doch die U-Bahn, lief vom Frankfurter Tor noch hinunter in seine Straße, stieg dann die Treppen zur vierten Etage hoch und betrat seine Wohnung.
Er mixte sich eine Wodka-Cola, legte sich Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ auf und streckte sich auf seine Ledercouch. Helga würde übermorgen wieder zu ihrem Wochenendbesuch kommen, wenn alles normal lief. Seine Gedanken kreisten in den nachfolgenden Stunden aber seltsamerweise mehr um Barbara und Lothar, als um Helga und das Stasiproblem.
3.
Sie hatten sich darauf geeinigt, dass Helga zu Weihnachten bei ihrem Mann bleiben, sie aber Silvester und Neujahr zusammen verbringen würden. Weißheimer hatte Wauer einen gebrauchten Trabant-Kombi in Taubenblau besorgt und vorläufig bezahlt. Wauer sollte ihm monatlich 150 Mark abstottern oder mehr geben, wenn er konnte. Es war ein gewaltiger Fortschritt für Wauer, der den gemeinschaftlich erworbenen Wartburg Barbara überlassen hatte, nachdem die Scheidung durch war.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag fuhr er mit diesem DDR-Volkswagen nach Frankfurt an der Oder, sammelte in Barbaras Wohnung den Sohn nebst Winterausrüstung und Skiern ein und fuhr mit ihm von dort in die Oberlausitz zu seiner Mutter, die er zuletzt im Sommer besucht hatte.
Der Winter hatte dieses Jahr pünktlich zu Weihnachten eingesetzt und es wurde von Tag zu Tag kälter. Mutter Wauer freute sich sehr, ihren Enkel nach fast drei Jahren wieder einmal zu sehen und gab sich große Mühe mit der Bewirtung ihrer Gäste. Es lag viel Schnee im Zittauer Gebirge und die beiden männlichen Familiensprösslinge nutzten die drei Tage, die sie zu Besuch bei Mutter und Großmutter einlogiert waren, um an der Lausche miteinander Wintersport zu treiben.
Lothar war ungeübt und es war an den altertümlichen Schleppliften auf der Lauschewiese nicht gerade das reine Wintersportvergnügen für die beiden. Aber sie waren draußen in der winterlich kalten, weißen Natur und in der klaren Luft und wenn sie danach in die warme Wohnung der Großmutter kamen, gab es noch gemütliche gemeinsame Nachmittage und Abende in dem Oberlausitzer Textilindustrieort.
Am 30. Dezember packten sie ihre Sachen und fuhren ab in Richtung Berlin. Die Straßenverhältnisse waren winterlich miserabel, Landstraßen und Autobahn nur mangelhaft beräumt und sie benötigten über Bischofswerda und Dresden mehr als sieben Stunden, ehe sie am Abend in Berlin anlangten. Sie waren am Morgen nach spätem Frühstück losgefahren und erreichten die Libauer Straße erst kurz vor sechs. Es war schon eine Zeitlang dunkel in der Stadt und die Straßen waren auch in Berlin glatt. In Wauers Wohnviertel waren bei diesen Kältegraden nur wenige Bürger unterwegs.
Am Silvestermorgen fuhren Vater und Sohn gemeinsam einkaufen und besorgten Fisch, Bratwurst und Getränke für die Tage des Jahreswechsels. „Wir bekommen Besuch“, hatte Martin Wauer dem Jungen erklärt. „Es ist eine Frau.“ Der Junge hatte darauf hin nichts gesagt. Abends achtzehn Uhr traf sie ein. Wauer war hinuntergelaufen, um ihre kleine Reisetasche und den Beutel, in dem sich zwei Flaschen und einige essbare Sachen befanden, hinauf zu tragen. Sie keuchte hinter ihm her.
Wauer machte Bratwürste mit Biersoße, während sich Helga Nowak mit dem Sohn bekannt machte. Lothar bemerkte ihren Bauch, sagte dazu aber zunächst nichts. Obwohl sie nun bereits deutlich schwanger war, war sie dennoch schön. Wauer hatte schon damals, als Barbara mit Lothar schwanger ging, darüber sinniert, wieso beim Menschengeschlecht ausgerechnet der zartere, kleinere und schönere Teil neun Monate Nachwuchs im Bauch tragen und dann mit ziemlichen schwerer Arbeit zur Welt bringen musste. Im Tierreich war das ganz überwiegend anders, da waren die Weibchen meist die kompakteren. Schwangere Frauen waren schön und faszinierend, das stand für ihn fest. Aber er fragte sich, ob alle schwangeren Weiber so verrückt auf Sex waren, wie seine Geliebte. Heute würde es jedenfalls damit nichts werden, zu dritt in der kleinen Wohnung.
Eine gewisse Spannung lag in der Luft, aber Helga verstand es, Lothar in Gespräche über Schule und das Wissen eines Zehnjährigen zu verwickeln.
Während Wauer das Silverstermahl bereitete, lief nebenbei der Fernseher und Helga schaltete in regelmäßigen Abständen zwischen dem Ost- und dem Westprogramm hin und her und sie konnten in schwarz-weiß sehen, wie man im Osten, im Westen und in der übrigen Welt den Jahreswechsel feierte.
Sie hatte, wie fast immer, eine Flasche Whisky, diesmal Marke Graggenmore, und eine Flasche Mumm-Sekt aus dem Intershop mitgebracht. Als sie Lothar auf die Couch gebettet hatten, fühlte sich Wauer ziemlich angetrunken und sie war sauer. Sie legten sich auch bald auf das am Fenster bereitete Lager und schliefen lange in den Neujahrsmorgen hinein, nachdem sie früh gegen vier Uhr, während Lothar noch schlief, ihr Sexualleben wieder ins Gleichgewicht gebracht hatten. Wauer stand als erster auf und machte das Frühstück. Als Lothar aufwachte, es war bereits gegen zehn Uhr, lotste sie ihn in das nächtliche Lager, erklärte ihm einiges zu Fragen der Schwangerschaft und zeigte ihm ihren Bauch. Wauer hatte dazu gemischte Gefühle und fragte sich, was Lothar Barbara erzählen würde. Aber die Hexe hatte den Sohn vollkommen in ihren Bann gezogen.
Als Wauer den Sohn am Neujahrsnachmittag mit dem Trabant nach Frankfurt an der Oder fuhr, was sich als ein ziemlich schwieriges Unterfangen