Morgenrosa. Christian Friedrich Schultze
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So hatte für sie das Jahr 1983 begonnen.
4.
Anfang Februar bat Manfred Schäfer Martin Wauer nachmittags kurz vor Feierabend zu sich ins Büro. Das war eine Woche, bevor Wauer mit seinem Sohn in die Niedere Tatra zum Wintersport oberhalb von Jasna am über 2000 Meter hohen Chopok fahren wollte. Der Winter war zum Jahresbeginn auch in Deutschland streng. Das Reisebüro hatte jedoch versichert, dass die Wintersportbedingungen in der Slowakei noch wesentlich besser seien.
„Kannst dir sicher denken, warum ich dich hergebeten habe“, fing M.S. ohne Umschweife an.
Wauer sah ihm gerade ins Gesicht und sagte: „Ja, ich kann´s mir denken.“
„Dieses Gespräch gibt´s eigentlich gar nicht. Ich bin auch nicht zuständig. Fritz Rauch ebenfalls nicht. Eigentlich niemand hier im Betrieb. Und doch war ich zur Bezirksleitung bestellt mit der Maßgabe, dich noch mal zu bearbeiten. Also rede ich dir jetzt ins Gewissen. Das machen wir aber nicht hier. Es wäre gut, wenn du sofort Zeit hättest und wir uns treffen könnten; im Friedrichshain, in einer Stunde. Das Wetter ist gut, schön kalt, und ein Spaziergang auf den Trümmerberg ist bestimmt gesund. In der Kneipe wär´s allerdings noch schöner, geht aber nicht. Also, bis nachher am Märchenbrunnen.“
Wauer stieg am Alexanderplatz, aus dem U-Bahnhof kommend, in die Straßenbahn Nr. 11, um hinüber zum Leninplatz zu fahren und dann die Friedensstraße am Volkspark entlang bis zum Märchenbrunnen zu laufen. Eigentlich war das umständlich. Er hätte auch gleich den Bus vom Luxemburgplatz aus nehmen können, aber er hatte Zeit und wollte laufen. M.S. war pünktlich am Platz. Obwohl es bereits dämmerte, rodelten noch einige Mütter und Väter mit ihren Kindern auf der an den westlichen Hängen des Trümmerberges eingerichteten Rodelbahn hinunter. Es war ein schöner Winterabend, wie es sie nur selten in der Stadt gab. Denn durch die Abgase der Fabriken, Häuser und Zweitakter und durch das Laugen der Straßen und Schienen wurde der Schnee schnell grau und schmolz bald dahin. Im Park lag er heute noch einigermaßen weiß und gleichmäßig. Nur wo die Kinder ihre Rodelbahn hatten, lugten schon braune Erdstreifen oder schmutziggrüne Rasenfetzen hervor.
„Inwiefern sollst du mich noch mal bearbeiten?“, fragte Wauer den Chef. Er hätte nicht vermutet, dass die Firma selbst in Einzelfragen Einfluss auf Generaldirektoren von Kombinaten nahm.
„Singer hat interveniert. Er sagte, dass du nicht unterschreiben wolltest, dass du die Kontakte mit deinem Cousin in München abbrichst. Du weißt aber, dass das höchst problematisch wird. Du arbeitest in einem sensiblen Bereich und dazu noch mit den Ungarn zusammen.“
„Und außerdem mit den Finnen, jedenfalls in einigen Teilbereichen der technischen Ausrüstungen“, fügte Wauer hinzu und empörte sich innerlich darüber, wie sie das Ding wieder zurecht gedreht hatten. Jedenfalls hatte die Stasi M.S. nicht direkt angesprochen und der Chef wusste womöglich gar nichts von dem Gespräch Ende Oktober des vergangenen Jahres im Büro des Kaderleiters.
„Singer verlangt, dass ich dich aus der Projektierung ´rausnehme“, sagte der Generaldirektor langsam und einigermaßen tonlos. „Die arbeitsrechtlichen Voraussetzungen sind wegen der Geheimhaltungsbestimmungen gegeben. Ich überlege schon einige Zeit, wie wir eine einvernehmliche Lösung hinkriegen könnten. Am besten wäre es natürlich, wenn du selber um Versetzung bittest, aus gesundheitlichen oder sonstigen privaten Gründen. Ich kann dir einen Arbeitsvertrag als Bauleiter in irgend einem Tiefbaubereich geben.“
Das war es also! Wauer staunte, wie sie es machten. Wenn er abschwor von seinen Vorstellungen von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit, konnte er weitermachen und früher oder später womöglich aufsteigen. Wenn nicht, schickte man ihn in die Wüsteneien des DDR-Aufbaus. Er sagte: „Ich hab´ doch bereits unterschieben, das habe ich Singer auch gesagt. Liegt doch in der Kaderakte. Was will er denn noch?“
„Er sagt, dass er Druck von den Sicherheitsorganen hat. Sie haben ihm von einem Treffen von dir und deiner damaligen Lebensabschnittskameradin mit deinem Cousin im Herbst ´81 in Warschau berichtet. Ausgerechnet in Polen, als das Theater mit der Solidarnosz war. Da musst du dich nicht wundern, dass sie hellhörig geworden sind.“
„Sie wollen von mir Stimmungen und Meinungen meines Umfeldes hören. Und natürlich Informationen, die ich von meinem Vetter abschöpfen könnte. Wer weiß, vielleicht müsste ich dann über deine Stimmungen und Meinungen ebenfalls berichten, und über meine Ex und so weiter. Das wird dann heiter.“
„Das ist ja die Scheiße, die mir auch so stinkt. Natürlich gibt es andere im Betrieb, die schon lange für die Stasi arbeiten. Ich kenne die auch nicht. Wenn wir uns jetzt gegenseitig immer nur noch misstrauisch überwachen, wird aus dem Sozialismus nichts werden.“
Wauer war froh, dass M.S. so offen sprach. Sie waren auf dem Zickzackweg aufgestiegen und an den tief vergrabenen Bunkerresten vorbei auf der Aussichtsplattform angekommen. Nicht weit in Richtung Westen leuchtete der Fernsehturm zu ihnen herüber. Einige Jugendliche rodelten jetzt in der Dämmerung auf der schmalen Bahn den nordwestlichen Hang hinunter und amüsierten sich dabei fröhlich und unbeschwert. So müsste es noch mal sein können, dachte Wauer. Er sagte: „Also, was für Lösungsmöglichkeiten hätten wir noch?“
„Wir haben ´ne Baustelle in Frankfurt-Oder, Industriekomplex West. Da bauen wir für die neuen Betriebe eine WÜST.6 Die könntest du haben. Das ist nicht so weit von Berlin und nahe bei deinen Leuten. Dort gibt´s ein Wohnheim, da besorge ich dir ein Zimmer. Du müsstest deine Wohnung hier also nicht gleich aufgeben. Außerdem können wir dir bisschen mehr Geld geben.“
„Und Alternativen?“, fragte Wauer.
„Sind noch beschissener. Es sei denn, du unterschreibst doch noch. Aber das solltest du nicht machen. Denn dann werden sie immer mehr von dir wollen“, entgegnete M.S.
„Ist es bei Greif auch so gelaufen?,“ fragte Wauer.
„Genau so“, erwiderte der Generaldirektor leise und mit deutlich traurigem Gemüt.
Wauer wurde mit einem mal klar, welcher Art die besondere Beziehung war, die sein früherer Bauleiter Greif und M.S. während ihrer Zeit in Schwarze Pumpe zueinander gehabt hatten. Greif, der schon in den 53er Aufstand verwickelt gewesen war, hatte damals auch njet gesagt, als die Zeiten noch viel schwieriger waren und war so von einem Aufstieg innerhalb einer sozialistischen Kombinatshierarchie für alle Zeiten ausgeschlossen worden.
„OK, wir machen es so! Ich gehe nach Frankfurt-Oder“, sagte Wauer entschlossen und voller Dankbarkeit.
5.
Sie hatten auf dem dunklen Weg hinunter zur Straßenbahnhaltestelle nichts mehr besprochen. Sie mussten höllisch aufpassen, um in den Schlaglöchern, die sich in den noch vor dem Krieg mit kleinen Steinen gepflasterten und kaum ausgebesserten Pfaden befanden, nicht hängen zu bleiben und auf dem glatten, festgetretenen Schnee nicht auszurutschen. Schäfer begleitete Wauer noch bis zur Haltestelle und wartete höflich, bis die Straßenbahn kam und sein Projektierungsleiter eingestiegen war. Er nickte ihm nur noch kurz zu. Dann verloren sich ihre Blicke.
Kurz danach fuhr Wauer gemeinsam mit seinem Sohn erstmals in den Winterurlaub. Es gab in diesem Februar viel Schnee in der Niederen Tatra. Sie hatten auch sonst Glück mit dem Wetter, denn es war kalt und die Sonne kämpfte