Oliver Twist. Charles Dickens

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Oliver Twist - Charles Dickens

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den Knaben zu veranlassen gedächte, ihm einen ausführlichen und wahrhaften Bericht über seine Lebensumstände und Schicksale zu erstatten?

      »Morgen früh,« erwiderte Brownlow. »Ich wünsche dabei unter vier Augen mit ihm zu sein. Komm morgen vormittag um zehn Uhr zu mir herauf, Oliver.«

      »Ja, Sir,« sagte Oliver. Er antwortete mit einigem Stocken, weil er dadurch in Verwirrung geraten war, daß Mr. Grimwig ihn bei seiner Frage so scharf angesehen hatte.

      »Ich will Ihnen etwas sagen,« flüsterte Grimwig Brownlow in das Ohr; »er kommt morgen früh nicht herauf zu Ihnen. Ich habe ihn beobachtet. Er betrügt Sie, lieber Freund.«

      »Ich schwöre darauf, daß er's nicht tut,« entgegnete Brownlow mit Wärme.

      »Ich will meinen Kopf aufessen, wenn er's nicht tut.«

      »Und ich bürge mit meinem Leben für seine Wahrhaftigkeit.«

      »Und ich mit meinem Kopfe für seine Lügenhaftigkeit.«

      »Wir werden sehen,« sagte Brownlow, seinen Unwillen bemeisternd.

      »Ja, ja, wir werden allerdings sehen,« wiederholte Grimwig mit einem herausfordernden Lächeln.

      Das Schicksal wollte es, daß gerade in diesem Augenblicke Frau Bedwin mit einigen Büchern hereintrat, welche Brownlow an demselben Tage von dem mehrerwähnten Buchhändler gekauft hatte. Sie legte sie auf den Tisch und schickte sich an, wieder hinauszugehen.

      »Lassen Sie den Ladenburschen noch warten,« sagte Brownlow; »er soll etwas mit zurücknehmen – ein Päckchen Bücher und das Geld für die gekauften.«

      Der Ladenbursche war aber schon wieder fortgegangen.

      »Ah, das ist mir aber sehr unangenehm,« fuhr Brownlow fort. »Der Mann braucht sein Geld, und ich würde es auch gern gesehen haben, daß er die Bücher noch heute zurückerhalten hätte.«

      »Schicken Sie sie doch durch Oliver,« fiel Grimwig mit einem ironischen Lächeln ein. »Sie wissen, er wird sie ohne Zweifel richtig abliefern.«

      »Ja, lassen Sie sie mich hintragen, Sir,« sagte Oliver eifrig. »Ich will auch den ganzen Weg laufen.«

      Brownlow wollte eben erklären, daß er Oliver unter keiner Bedingung hinschicken werde, als ein boshaftes Husten seines Freundes ihn bestimmte, seinen Beschluß abzuändern, um Grimwig der Ungerechtigkeit seines Argwohns zu überführen. Er hieß Oliver die Bücher hintragen und gab ihm zugleich eine Fünfpfundnote, worauf er zehn Schillinge zurückbekommen würde.

      Oliver versicherte, er würde in zehn Minuten wieder da sein, verbeugte sich ehrerbietig und eilte hinaus. Frau Bedwin folgte ihm vor die Haustür, gab ihm ausführliche Anweisungen in Betreff des nächsten Weges und entließ ihn unter vielen wiederholten Ermahnungen, sich nicht zu überlaufen, sich nicht zu erkälten u. s. f. Es war ihr höchst unangenehm, ihn aus den Augen lassen zu müssen. Sie hätte auf Mr. Brownlow zürnen mögen und sah Oliver nach, bis er an der nächsten Ecke angelangt war, wo er sich noch einmal umwandte und ihr freundlich zunickte.

      »Er ist in höchstens zehn Minuten wieder hier,« sagte Brownlow und legte seine Uhr auf den Tisch. »Es wird bis dahin dunkel geworden sein.«

      »Sie glauben also wirklich, daß er wiederkommt?«

      »Sie nicht?« entgegnete Brownlow lächelnd.

      In seinem Freunde regte sich der Widerspruchsgeist gerade mit besonderer Lebhaftigkeit, und Brownlows Lächeln verstärkte ihn noch. »Nein,« erwiderte er mit großer Bestimmtheit. »Er steckt in einem nagelneuen Anzug, hat ein Paket wertvoller Bücher unter dem Arme und eine Fünfpfundnote in der Tasche; er wird sich sofort wieder zu seinen alten Spießgesellen begeben und Sie auslachen. Ich will meinen Kopf aufessen, wenn er sich jemals wieder hier blicken läßt.«

      Er rückte näher an den Tisch, und beide saßen in stummer Erwartung da. Es ist der Bemerkung wert und wirft ein Licht auf die Bedeutung, welche wir unsern eigenen Urteilen beilegen, und den Stolz, mit welchem wir uns auf unsere übereiltesten Schlüsse verlassen, daß Grimwig, obgleich er kein schlechtes Herz hatte, obgleich es ihn wirklich betrübt haben würde, wenn er seinen geschätzten Freund betrogen gesehen, im Augenblick ebenso lebhaft wünschte wie hoffte, Oliver möchte nicht wiederkommen. Aus solchen Widersprüchen ist die menschliche Natur zusammengesetzt!

      Es wurde so dunkel, daß die Zahlen auf dem Zifferblatt der Uhr nicht mehr zu erkennen waren; allein die beiden alten Herren saßen fortwährend da und hefteten schweigend die Blicke auf die Uhr.

      Kapitel 15

      Was Oliver auf dem Wege zum Buchhändler begegnete

      Olivers Rückkehr wurde beiden Herren immer zweifelhafter, zu Grimwigs Triumph und Brownlows tiefer Betrübnis. Ich hätte nun hier in meinem Prosaepos die kostbarste Veranlassung, die Leser mit vielen weisen Betrachtungen über die offenbare Unklugheit zu unterhalten, seinen Mitmenschen Gutes zu erweisen ohne Aussicht auf irdischen Lohn, oder vielmehr darüber, wie sehr es die Klugheit erfordere, in einem besonders hoffnungslosen Falle einige Liebe und Menschenfreundlichkeit an den Tag zu legen, und sodann dergleichen Schwachheiten für immer abzulegen. Die Vorteile liegen auf der Hand. Hält sich der, dem ihr unter die Arme gegriffen, gut und dient ihm euer geleisteter Beistand zum Wohlergehen, so erhebt er euch bis in den Himmel, ihr werdet sehr geachtete Leute und gelangt in den Ruf, unendlich viel Gutes im Verborgenen zu tun, wovon nur der zwanzigste Teil bekannt werde; zeigt er sich als ein Undankbarer und Nichtswürdiger, so habt ihr euch in die vortreffliche Stellung gebracht, daß man euch nachsagt, ihr hättet euch höchst uneigennützig, mildtätig und dienstfertig erwiesen, wäret nur durch erfahrenen Undank und Verrat menschenfeindlich geworden und man könne euch euer Gelübde nicht verdenken, nie wieder einem Menschenkinde beizuspringen, um nicht durch abermalige Täuschungen verletzt zu werden. Ich kenne eine Menge Personen, welche die angegebene Klugheitsregel befolgt haben, und kann versichern, daß sie in der allgemeinsten und natürlich verdientesten Achtung stehen.

      Brownlow gehörte indes zu ihrer Zahl nicht, denn er blieb hartnäckig dabei, Gutes zu tun um des Guten selbst und um der Herzensberuhigung und Freude willen, die es ihm gewährte. Täuschungen raubten ihm sein Vertrauen und seine Milde und seine Menschenfreundlichkeit nicht, und Undankbarkeit von Seiten einzelner führte ihn nicht zu dem Entschluss, sich dafür an der ganzen leidenden Menschheit zu rächen. Ich werde daher die fraglichen vielen weisen Betrachtungen unangestellt lassen, und sollte dieser Grund ungenügend erscheinen, so kann ich noch hinzufügen, daß es obenein gänzlich außer meiner ursprünglichen Absicht liegt.

      Im finsteren Gastzimmer einer kläglichen Winkelschenke, gelegen in der schmutzigsten Gasse von Little Saffron Hill, saß bei einem Bierkrug und Branntweinglas ein Mann, in welchem trotz dem herrschenden Halbdunkel kein irgend erfahrener Polizeiagent Bill Sikes verkannt haben würde. Zu seinen Füßen lag sein weißer, rotäugiger Hund, und sei es, daß Bill seine Zeit nicht besser anzuwenden wußte, oder daß er seine üble Laune an irgendeinem Gegenstände auszulassen wünschte, genug, er versetzte dem Tiere einen derben Fußtritt. Dem Hunde mißfiel der offenbare Mutwille dieser Behandlung so sehr, daß er nach seines Herrn Beine schnappte, Bill ergriff wütend das Schüreisen und sein Messer, als die Tür sich auftat und der Hund hinausschoß. Zu einem Streite gehören dem Sprichwort gemäß zwei, und Bill setzte daher den einmal begonnenen sogleich mit dem Eintretenden fort.

      »Verdammter Jude, was trittst du zwischen mich und meinen Hund?« schrie er ihm entgegen.

      »Ich

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