Oliver Twist. Charles Dickens
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Oliver besann sich ein wenig und erwiderte endlich, es bedünke ihn weit besser, ein Buchhändler zu sein, worüber der alte Herr herzlich lachte, und wozu er bemerkte, Oliver habe da etwas sehr Gescheites gesagt. Oliver freute sich über diese Anerkennung, obgleich er durchaus nicht begriff, wodurch er sie verdient haben möchte.
»Sei nur ohne Furcht,« sagte der alte Herr; »ich werde dich nicht zum Schriftsteller machen, solange es noch ein anderes ehrliches Geschäft oder Handwerk gibt, das du erlernen kannst.«
»Ich danke, Sir,« entgegnete Oliver, und der alte Herr lachte abermals über den großen Ernst, mit dem er antwortete, und sagte ein paar Worte von einem merkwürdigen Instinkt, welche Oliver nicht sehr beachtete, da er sie nicht verstand. Brownlow fuhr darauf in einem wo möglich noch freundlicheren, aber zugleich ernsteren Tone, als er gegen Oliver bis dahin angenommen, fort: »Sei jetzt recht aufmerksam auf das, was ich dir sagen werde. Ich gedenke ohne Rückhalt mit dir zu reden, weil ich überzeugt bin, daß du mich ebensogut verstehen wirst wie viel ältere Personen.«
Oliver erschrak. »Ach!« rief er aus, »sagen Sie nicht, daß Sie mich fortschicken wollen, Sir; weisen Sie mir nicht die Tür, daß ich wieder auf den Straßen umherirren muß. Lassen Sie mich bei Ihnen bleiben und Ihnen dienen. Schicken Sie mich nicht in das schreckliche Haus zurück, woher ich gekommen bin. Erbarmen Sie sich eines armen verlassenen Knaben, bester Herr!«
»Mein liebes Kind,« sagte der alte Herr gerührt, »du brauchst nicht zu fürchten, daß ich meine Hand von dir abziehe, solange du mir keine Ursache dazu gibst.«
»Das will ich nie, niemals, Sir!«
»Ich hoffe, daß du es nicht tun wirst, glaube es auch nicht. Ich bin oft getäuscht und betrogen worden von Leuten, denen ich wohltun wollte, bin aber trotzdem sehr geneigt, dir zu vertrauen, und ich empfinde eine größere Teilnahme für dich, als ich sie sogar mir selbst erklären kann. Die ich am meisten geliebt habe, ruhen längst in ihren Gräbern, und ich habe auch meines Lebens Glück und Zier begraben – nicht aber meine Herzenswärme. Auch herber Kummer hat sie nicht ausgelöscht, sondern nur noch stärker angefacht; wie denn allerdings Schmerz und Leid unser Inneres stets reinigen und läutern sollten.« – Er hatte dies mit leiser Stimme und mehr vor sich hin, als zu Oliver gesprochen, der ganz still dasaß und kaum zu atmen wagte. – »Doch ich sagte das nur,« fuhr der alte Herr wieder heiterer fort, »weil du ein junges Gemüt hast, und wenn du weißt, daß ich viel gelitten habe, dich vielleicht noch sorgfältiger hüten wirst, mir abermals wehe zu tun. Du sagst, daß du eine Waise wärest und ganz allein in der Welt daständest. Alles, was ich in Erfahrung habe bringen können, bestätigt deine Angaben. Erzähle mir nun, wer deine Eltern gewesen sind, wo du erzogen und wie du in die Gesellschaft geraten bist, in welcher ich dich gefunden habe. Sage die Wahrheit, und wenn ich finde, daß du kein Verbrechen begangen hast, so soll es dir niemals, solange ich lebe, an einem Freunde fehlen.«
Oliver vermochte vor Schluchzen ein paar Minuten nicht zu antworten, und als er sich endlich gefaßt hatte und seine Erzählung beginnen wollte, ließ sich ein Herr zum Tee anmelden.
»Es ist ein Freund von mir, Mr. Grimwig,« sagte Brownlow zu Oliver. »Er hat ein wenig rauhe Manieren, ist aber im Herzen ein sehr wackerer Mann.«
Oliver fragte, ob er hinuntergehen solle, allein Brownlow hieß ihn bleiben, und in demselben Augenblicke trat Mr. Grimwig, ein korpulenter alter Herr, gestützt auf einen tüchtigen Handstock – denn er hatte ein etwas lahmes Bein – schon in das Zimmer. Oliver hatte nie ein so verzwicktes Gesicht gesehen. Grimwig hielt dem Freunde sogleich auf Armeslänge ein Stückchen Zitronenschale entgegen und polterte, dergleichen würde ihm überall in den Weg geworfen. »Ich will meinen eigenen Kopf aufessen, wenn Zitronenschale nicht noch mein Tod ist!« beteuerte er.
Es war seine gewöhnliche Beteuerung; allein wenn die Erfindung, den eigenen Kopf zu verspeisen, auch noch gemacht werden sollte, so würde es einem Herrn, wie Mr. Grimwig war, doch jedenfalls stets sehr schwer fallen, in einer einzigen Mahlzeit damit zustande zu kommen.
Mr. Grimwig erblickte Oliver, trat ein paar Schritte zurück und fragte Brownlow verwundert, wer der Knabe wäre.
»Der Oliver Twist, von welchem ich Ihnen erzählt habe,« erwiderte Brownlow.
Oliver verbeugte sich.
»Doch nicht der Knabe, der das Fieber gehabt hat?« sagte Grimwig, sich noch etwas weiter zurückziehend.
»Gehabt hat,« wiederholte Brownlow lächelnd.
Grimwig setzte sich, ohne seinen Handstock zur Seite zu stellen, beäugelte den hocherrötenden Oliver durch seine Lorgnette und redete ihn nach einiger Zeit an. »Wie befindest du dich?«
»Danke, Sir, sehr viel besser,« erwiderte Oliver.
Brownlow schien zu besorgen, daß sein absonderlicher Freund etwas Unangenehmes sagen möchte, und hieß Oliver daher hinuntergehen und Frau Bedwin ankündigen, daß die Herren den Tee erwarteten. Oliver ging mit Freuden.
»Er ist ein artig aussehender Knabe, nicht wahr?«
»Kann's nicht sagen,« entgegnete Grimwig verdrießlich.
»Sie können es nicht sagen?«
»Nein. Ich kann nie einen Unterschied an Knaben entdecken. Ich kenne nur zwei Arten von Knaben – Milchsuppengesichter und Rindfleischgesichter.«
»Zu welcher Art gehört Oliver?«
»Zu den Milchsuppengesichtern. Ich kenne einen Freund, der einen Knaben mit einem Rindfleischgesicht hat – einen schönen Knaben, wie ihn seine Eltern nennen, mit rundem Kopf, roten Wangen und glänzenden Augen – einen abscheulichen Knaben, wie ich ihn nenne – mit einem Körper und Gliedern, die die Nähte seines blauen Anzugs zu sprengen drohen, mit der Stimme eines Matrosen und einem Wolfshunger. Ich kenne ihn – den Bengel!«
»Dann gleicht er Oliver nicht, dem Sie daher nicht zürnen dürfen.«
»Freilich gleicht er dem Oliver nicht, der vielleicht noch schlimmer ist.«
Brownlow hustete ungeduldig, was seinen Freund höchlich zu ergötzen schien.
»Ja, ja, er ist vielleicht noch schlimmer,« fuhr Grimwig fort. »Woher stammt er? Wer ist er? Was ist er? Er hat ein Fieber gehabt. Gute Menschen pflegen keine Fieber zu bekommen, wohl aber schlechte. Ich habe einen Menschen gekannt, der in Jamaika aufgehängt wurde, weil er seinen Herrn ermordet hatte. Er hatte sechsmal das Fieber gehabt und wurde deshalb nicht zur Begnadigung empfohlen.«
Grimwig war im innersten Herzensgrund sehr geneigt, anzuerkennen, daß Oliver ein außerordentlich einnehmender Knabe wäre; allein er liebte noch mehr den Widerspruch, die Zitronenschale hatte ihn gereizt, er war entschlossen, sich von niemand sein Urteil über einen Knaben vorschreiben zu lassen und hatte sich aus diesen triftigen Gründen von Anfang an vorgenommen, seinem Freunde in allem zu widersprechen. Als Brownlow daher zugestand, daß seine bisherigen Erkundigungen noch ungenügend wären, lächelte Grimwig ziemlich boshaft und fragte, ob die Haushälterin auch wohl regelmäßig das Silbergeschirr nachsähe und wegschlösse, denn er würde sich eben nicht wundern, wenn sie einmal einige Löffel oder dergleichen vermißte, usw.
Brownlow, obgleich selbst etwas heftigen Temperaments, ertrug dies alles sehr gutlaunig, da er die Sonderbarkeiten seines Freundes kannte; und da sich dieser mit dem Tee und den Semmeln sehr zufrieden zeigte, so ging alles weit besser, als man hätte erwarten