Schiffselektriker – Werft, Schiffe, Seeleute, Funkbuden – Jahrgang 1936. Conrad H. von Sengbusch

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Schiffselektriker – Werft, Schiffe, Seeleute, Funkbuden – Jahrgang 1936 - Conrad H. von Sengbusch

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      Als sich die Verhältnisse in Ost und West wieder stabilisierten und die Wirtschafterin die Mitteilung bekam, dass ihr als „gefallen“ gemeldeter Mann aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehre, entschloss sich meine Mutter, uns wieder nach Zeulenroda in ihr großbürgerliches Elternhaus zurückzuholen.

      Ganz plötzlich war sie angereist, und wir Kinder saßen zwischen „Baum und Borke“, sollten sofort packen, und so kam es dann auch. Wir wurden gar nicht gefragt, sondern erlebten das Spannungsfeld zwischen meinen Eltern hautnah mit. Aber es kam noch viel besser:

      Mit dem Zug ging es gleich am nächsten Morgen zu der Verwandtschaft in die Rhön. Diese Familie hatte nichts verloren und lebte in einem Forsthaus inmitten des Reviers Wasserkuppe. Es gab hier alles, was man bei wohlhabenden Leuten erwartete: Ein eigenes Jagd- und Fischrevier, Reitpferde, Zugpferde, etwas Landwirtschaft und ergebenes Gesinde. Dennoch und trotz alles Reichtums habe ich diese Familie nie glücklich erlebt. Hass, Zwietracht und Verachtung für die angeheiratete und „verarmte Verwandtschaft aus dem Osten“, waren hier die Grundeinstellung des Denkens und Handelns. Das große Anwesen wurde von Tante M. straff geführt. Sie war das Abbild einer Tante, wie sie nicht sein soll und vor der sich Kinder fürchten: Ein schmales, blasses, blutleeres Gesicht, eine lange, dünne Nase, ein verbissener, kleiner Mund – wie ein Strich – und eine äußert „spitze Zunge“. Ein falsches Wort zur unrechten Zeit, und die Tante explodierte. Die Sprache wandelte sich dann von eintönig in einen Tonfall, bei dem kurze, herausgestoßene sarkastische Worte in ein Stakkato übergingen und in herausgeschleuderten Hasstiraden endeten. Selbst die Frisur hatte nichts Weibliches: Solange ich die Dame kannte, trug sie einen äußerst knappen Herrenschnitt, den ich damals als sehr herb empfand, der aber, die heutige Damenwelt möge es mir verzeihen, z. Z. durchaus „im Trend“ ist. Aber heute ist eh alles anders, deshalb weiter im Gestern. Tante M. war die „Fleischwerdung eines Grabes der Gefühle“, wenn es so etwas gibt. Zur Familie gehörte auch Onkel P., ein rühriger, menschlicher, gebildeter, humorvoller hoher Staatsbeamter, eine Seele von Mensch, bei dem ich im Krieg an seinem Dienstort in Westpreußen sehr schöne Ferien verbracht hatte. Ein Wunder, wie solche Charaktere zusammenfinden und auch noch eine Großfamilie mit drei Kindern gründen können.

      Wir saßen im dämmerigen Salon, dessen Interieur von Jagdtrophäen aller Art geprägt wurde, wie man das auch in einem Forsthaus erwartet. Hirschgeweihe, Rehbockgehörn, Spießergehörne, ein paar ausgestopfte Tiere. Vernehmlich laut tickte die Standuhr und erhöhte die unerträgliche Spannung, denn es wollte an diesem Tag nicht so recht hell werden. Die Stunde unseres Aufbruchs rückte näher und näher. Wir mussten „schwarz“ über die „Grüne Grenze“, wie man damals sagte. Nur ab und zu wurde leise gesprochen. Meine Schwester Monika, damals 15 und ich, 13 Jahre alt, hatten zu schweigen, wie es sich für Kinder gehörte. Ich hörte Gesprächsfetzen, wie „Führer“, „Offizier“, „ehrenhaft“, „Ritterkreuzträger“, „verlässlicher Mensch“, „40 Mark West pro Person“ und machte mir daraus ein Bild einer generalstabsmäßig geplanten Vorbereitung unseres Vorhabens. Die Ehrfurcht vor Chargierten steckte noch in den Knochen der Älteren, und auch wir waren davon nicht unbeeindruckt. Es war ja auch erst ein paar Jahre her, dass wir mit Uniformen um uns aufgewachsen waren. Einige Ritterkreuzträger kannte ich von meiner Postkartensammlung, die ich als Kind hatte und die wöchentlich ergänzt wurde. Unser „Führer“, ein professioneller Grenzgänger, ehemaliger höherer Offizier und Ritterkreuzträger, verlässlich, erprobt und erfahren, war bereits ausgesucht und bezahlt, blieb aber namentlich anonym. Ihm hatten wir uns bedingungslos anzuvertrauen. Das Unternehmen konnte starten.

      Im alten Vorkriegs-OPEL-Kadett von Onkel P. den natürlich Tante M. chauffierte, näherten wir uns dem Grenzort Tann. Während der Fahrt eisiges Schweigen, das ab und zu von kurzen Vorhaltungen unterbrochen wurde, die sich aufschaukelten und in Keifen übergingen, weil sich Onkel P. mit Kommentaren zurückhielt. Das war für uns als Unbeteiligte natürlich keine angenehme Situation. Wir saßen zusammengekauert im Fond und schwiegen betreten. Mehrfach erging nun die Aufforderung an Onkel P., das Fahrzeug sofort auf freier Strecke zu verlassen, was er natürlich nicht tat. Auf thüringisch hörte sich das so an: „Baul, naus!“ oder auf hochdeutsch „Paul, hinaus!“ Als nach Jahrzehnten die Nachricht kam, Onkel P. sei inmitten seines geliebten Reviers plötzlich tot umgefallen, muss es für ihn eine Erlösung gewesen sein.

      Wir erreichten Tann im strömenden Regen. Kalte Windböen und Regenschauer peitschten übers Land, dazu eine schnell hereinbrechende Finsternis, wie ich sie noch nicht erlebt hatte. Ich keuchte jetzt schon unter der Last meines 40 Pfund schweren grauen Luftwaffenrucksacks voller Fischdosen, die die sandige, rosarote Masse aus zerriebenem Muschelfleisch, genannt Fischpasta, enthielten. Die Dosen hatte ich wohl nicht richtig gepackt, denn sie drückten gewaltig im Kreuz. Mein Mantel, den mir die Wirtschafterin aus einer hellgrauen dünnen Wehrmachtsdecke genäht hatte, war schon voll Wasser gesogen und hing schwer an mir. Die ererbten pluderigen, verschossenen und jetzt hellvioletten Trainingshosen waren unten schon ganz nass und legten sich wie kalte Prießnitz-Wickel um die Waden.

      Jemand wies uns den Weg zum Sammelplatz am Waldrand. Nach und nach fanden sich weitere, schwer bepackte West-Ost-Grenzgänger ein. Wir waren die einzigen Kinder. Nun erahnte ich zum ersten Mal die Statur unseres „Führers“. Groß, stattlich und wortkarg habe ich ihn in Erinnerung. In seiner Feldjacke mit Kapuze konnte ich sein Gesicht nicht klar erkennen, doch war die Stimme vertrauenserweckend. Er gab der Gruppe Verhaltensregeln für den Notfall, wie sicher ein paar Jahre zuvor seinem Trupp: Nicht rauchen, nicht sprechen, ruhiges Verhalten, Orientierung am Vordermann, Gänsemarsch.

      Los ging es. Die Nacht wurde stockdunkel, so dass man wirklich nicht die Hand vor den Augen sah, und doch wusste der Anführer, wo der Pfad nach Osten führte. Mein Platz in der Aufstellung war gleich hinter dem „Führer“ und meine einzige Orientierung war eine nasse, kalte Lederschlaufe an dessen prallgefülltem Rucksack. Die Militärrucksäcke hatten damals Lederschlaufen für Dinge wie das Kochgeschirr, das damals aber nicht mehr benötigt wurde. Und an diesen Zipfel der Sicherheit klammerte ich mich. Keinesfalls wollte ich den Anschluss verlieren, denn an mir orientierten sich ja auch die anderen. Stundenlang und ohne Rast ging es unerbittlich voran. Kein trockener Fetzen war mehr am Leib, und allein die Bewegung hielt warm. In der Ferne bellten Hunde, drangen unverständliche Rufe an unser Ohr. War etwa eine andere Gruppe entdeckt worden? Meine Gedanken waren erfüllt von Bangen und Hoffnung, und mein Körper am Rande der physischen Erschöpfung.

      Es dämmerte bereits der Morgen, ich hatte mich vom Vordermann etwas gelöst, strauchelte und fiel in eine Wildschweinsuhle. Der schwere Rucksack knallte mir ins malträtierte Kreuz. Verdreckt und klitschnass rappelte ich mich hoch, niemand nahm davon Notiz, denn jeder war sich selbst der Nächste. Weiter ging es, immer weiter. Fahl begann der Morgen, der von dräuenden, schweren, dahin ziehenden Regenwolken verhangen war. Gegen das Morgenlicht gewahrten wir sich scharf abzeichnende Konturen von ein paar Panzern. Ein neuer Schreck durchfuhr mich. Waren wir in ein russisches Biwak geraten? Der „Führer“ hatte die Situation längst erfasst und kannte sie offenbar: Wortlos deutete er auf einen etwas abseits stehenden Tank, und wir erkannten ein geborstenes Geschützrohr. Hier im Niemandsland stand der Rest einer Kampfgruppe der ehemals „Großdeutschen Wehrmacht“, an den sich die allgegenwärtigen Schrotthändler offenbar noch nicht herangetraut hatten.

      So wortlos, wie die Tour begann, so endete sie auch, als die ersten Häuser von Kaltennordheim in Sicht kamen. Kleine Grüppchen sonderten sich nach und nach ab und verschwanden grußlos hinter der nächsten Gartenhecke. Auch der „Führer“ ging seines Weges. So standen wir plötzlich alleine im Dorf, das gerade erwachte. Einzelne Straßenlaternen beleuchteten gespenstisch die noch leeren Dorfstraßen, und unsere nächste Sorge war, möglichst nicht von einer Streife der KVP (Kasernierte Volkspolizei) aufgegriffen zu werden. Es galt also, möglichst ungesehen zum Bahnhof zu kommen. Natürlich durften wir niemanden nach dem Weg zum Bahnhof fragen, mussten aber auf jeden Fall mit dem ersten Frühzug den Ort in Richtung Eisenach verlassen. Für diesen Fall hatten meine Eltern vorgesorgt. So waren wir schon „Weltbürger“ im Kleinen. Meine Mutter hatte uns in der DDR nicht abgemeldet,

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