Schiffselektriker – Werft, Schiffe, Seeleute, Funkbuden – Jahrgang 1936. Conrad H. von Sengbusch

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Schiffselektriker – Werft, Schiffe, Seeleute, Funkbuden – Jahrgang 1936 - Conrad H. von Sengbusch

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nach Schleswig-Holstein und keine Lebensmittelkarten gegeben. So hatten wir auch als Westbürger eine Legimitation. Pässe waren aber auch in der DDR lebenswichtig, sonst bekam man an den Grenzbahnhöfen keine Fahrkarten.

      Wir fanden schließlich den Bahnhof, indem wir den typischen Rangier-, Anfahr- und Anlege-Geräuschen der Dampflok nachgingen. Der Morgenzug war schon bereitgestellt. Er bestand aus einer alten Dampf-Tenderlok und alten preußischen Abteilwagen, die ich aus der Kriegszeit nur als 3.-Klasse-Wagen in Erinnerung habe. Das war die Bauart mit den harten Holzbänken, Gasbeleuchtung, gestricktem Gepäcknetz, in dem notfalls auch Kinder schlafen konnten, Fenstern mit Lederriemen, die nach dem Krieg aber oft abgeschnitten und zu Schuhsohlen verarbeitet wurden und weiter dadurch gekennzeichnet, dass jedes Abteil eine Tür und wohl jedes dritte oder vierte einen Abort hatte. Als wir erschöpft, durchnässt und fröstelnd auf den harten Holzbänken Platz genommen hatten, setzte sich der Zug ächzend und quietschend in Bewegung. Das Schlimmste schien überstanden zu sein. In der Tat sollte die Fahrt aber schon an der nächsten Station, es könnte Fischbach gewesen sein, abrupt enden.

      Ungewöhnlich lange warteten wir hier und glaubten an eine Betriebsstörung, bis wir laute Kommandorufe, das Murmeln der Reisenden und vereinzelt Schreie hörten. „Vopos“ hatten den Zug umstellt und suchten nun systematisch Abteil für Abteil nach Grenzgängern ab. Natürlich versuchte meine Mutter alles, um uns nicht als Grenzgänger, sondern als schlichte Reisende darzustellen. Sie wies uns als DDR-Bürger aus und appellierte an das Gewissen der Volkspolizisten, allein, es half nicht. Grinsend deutete ein Vopo auf meine neuen, ursprünglich chromgelben Lederschnürstiefel, die, wie mein Mantel, völlig verdreckt waren und uns verraten hatten. Schnell wurde auch unser Gepäck gefunden und durchsucht. Die „Westwaren“ entlarvten uns endgültig. Wir mussten den Zug verlassen und trafen auf dem Bahnsteig auf weitere, etwa dreißig Personen, die die Situation je nach Temperament gelassen, stoisch, neugierig, verzweifelt oder verängstigt ertrugen. Ab ging die Tour, diesmal ins Ungewisse. Wir vornweg, wie das bei Gefangenen so üblich ist und etwa zehn Vopos, mit der Maschinenpistole im Anschlag, hinterher. Zum ersten Mal im Leben erlebte ich das Gefühl, wehrlos, gefangen und ausgeliefert zu sein. Meiner Mutter gelang es noch, sich unterwegs unserer Westpässe zu entledigen, wohl in der Hoffnung, uns doch noch als DDR-Bürger freizubekommen.

      „Burg“ Katzenstein

      Unser Weg führte eine baumbestandene Landstraße entlang, dann bergauf, und über einen Feldweg zur „Burg“ Katzenstein. Die „Burg“, wie ich sie nenne, war aus meiner Sicht ein festungsähnliches Gebäude mit mächtigem Natursteinmauerwerk, das bis zum ersten Stock reichte.

      In solchen Trutzburgen waren im „Großdeutschen Reich“ Bannführerschulen, Napolas oder ähnliche Institutionen untergebracht, und ich bin sicher, dass auch dieses Gebäude einst eine solche Vergangenheit hatte. Der Zeitgeist schwebte noch über dem Gemäuer.

      Die Einlieferung war kurz und schmerzlos. Keine Registratur, keine Fragen, man ließ sich Zeit. Unser Gepäck wurde abgenommen und sichergestellt. Wir wurden nun in den Keller verbracht. Lange, hallende Gänge nahmen uns auf. Hinter vielen mächtigen eisenbeschlagenen Holztüren, die mit tellergroßen runden Vorhängeschlössern und schweren eisernen Riegeln gesichert waren, vernahmen wir das Gemurmel von Menschen. Eine dieser Türen wurde nun aufgeschlossen, und wir blickten auf eine dicht an dicht stehende Menschenmasse, die von uns kaum Notiz nahm und uns den Rücken zukehrte. Einige der Unglücklichen drehten sich dann doch um. Sie musterten uns misstrauisch und scheinbar uninteressiert. Wer war schon Freund, wer Feind und wer vielleicht ein Spitzel? Hier galt es, nicht zu viel von sich preiszugeben und wenig zu sagen, um nur nicht aufzufallen. Die Luft war zum Schneiden: Die Ausdünstungen ungewaschener Menschen, der Geruch nach Schweiß, Kot, Urin, Erbrochenem, Mensis und die Gase, die Menschen nach dem Verzehr von Hülsenfrüchten, Kohl oder Schwarzbrot abgaben, vermischten sich zu einem unbeschreiblichen Gestank.

      Wie nun hinein in dieses Verlies, wo doch alles besetzt war? Es wurde da nicht gefragt. Zehn oder zwölf Personen aus unserer Gruppe wurden gegen die Menschenmauer geschoben. Dann drückten mehrere Vopos hinter uns mit Gewalt die Tür zu und schlossen uns ein. Die Falle war zugeschnappt und wir darin. Spärliches Tageslicht aus einem vergitterten, kleinen Kellerfenster erhellte zwar etwas den Raum, ein Blick nach draußen war aber nicht möglich.

      Und hier mache ich bewusst mal einen „Schnitt“, denn hier begannen meine „entscheidenden 11 Jahre“, denen dieses Buch gewidmet ist. In wenigen Stunden wurde ich zum aufgeklärten Erwachsenen und erlebte das unterschiedliche Verhalten von Menschen in fast auswegslosen Situationen direkt „aus der Hefe des Volkes“: Verängstigte Menschen, auch gebildete, reagieren in einer solchen Situation sehr unterschiedlich: Da wurde laut gebetet, andere schrieen „Schnauze“, „Maul“, „Gusche“, einige fluchten zum Gotterbarmen, wieder andere unkten. Es gab Leute, die Gerüchte erfanden und sich an der Furcht der anderen weideten, wieder andere sahen uns schon in Sibirien. Schließlich gab es noch die Erzähler von rüden Witzen und nicht zu vergessen Männer, die ihren sexuellen Phantasien freien Lauf ließen und Frauen, die sie lautstark darin unterstützten. So ging es stundenlang. Menschen in der Masse und in äußerster Not werden zu Hyänen, sind lenkbar, steuerbar, willig oder unwillig, ein reiches Feld für Verhaltensforscher. Da wir uns nicht hinsetzen konnten, hatten wir als Kinder den wahrlich schlechtesten Standort, bekamen wir die Ausdünstungen der Vorderleute doch aus erster Quelle. Eine Frischluftzufuhr gab es nicht. „Erstunken ist noch keiner, erfroren schon viele“, tönte es irgendwoher im alten Landserjargon. Ein reines Chaos. Stundenlanges Stehen nach der strapaziösen Nacht zuvor, kein Essen, kein Trinken und zunächst keine Möglichkeit zum Austreten. Die Menschen sanken als trauriges Bündel dahin, wo sie standen. Auf dem Boden Erbrochenes, Urin und Kot. Vieles kann man „zurückhalten“, die große Notdurft aber kaum. Als die Not zu groß wurde und Schreie, Flüche, Rufen und Kreischen, dazu verzweifeltes Schlagen gegen die Tür für die Wachen nicht mehr zu überhören waren, gab es endlich eine Möglichkeit zum Austreten. Alle fünf Stunden durften wir nun unter Bewachung den Raum verlassen, um die Notdurft zu verrichten. Und das in Klosettzellen mit halbhohen, abgesägten Türen unter ständiger Aufsicht der Vopos. Besonders die Frauen schämten sich bei dieser entwürdigenden Prozedur. Dann zurück in das Kellerverlies. Noch in der Nacht wurden mehrfach verängstigte Mitgefangene einzeln oder in Gruppen zum Verhör geholt. Einige kamen nicht wieder, und schon flammten Gerüchte auf. Andere Zellengenossen wurden verlegt, und gleich wusste einer, dass sie isoliert würden, was die Stimmung noch mehr aufheizte. Wieder andere kamen zurück, wortkarg, sagten kein Wort und blieben stumm, so sehr sie einzelne Mitgefangene auch zum Erzählen animieren wollten. Jeder dachte, ein anderer könne ein Spitzel sein, was durch Neuzugänge auch sicher provoziert wurde.

      Schließlich wurden wir am Morgen mit unserer Mutter abgeholt und verhört. Gefragt wurde nach dem Woher, Wohin, Weshalb, Warum. Meine Mutter appellierte an den Ermessensspielraum des vernehmenden Vopo-Offiziers und wies nach, dass sie als „Freischaffende Bildhauerin“ zu den „Intelligenzlern“ der DDR gehöre und die Kinder von Westdeutschland in die DDR zurückgebracht hätte, was ja auch stimmte. Letztlich hatten wir uns in einer Zeit dominierender Ost-West-Wanderungen in der Gegenrichtung bewegt. Die Nacht im Keller war zwar unerträglich, aber es nutzte nichts, wir mussten wieder zurück zu unseren Leidensgenossen. An Schlafen war nicht zu denken.

      Schon lange meldete sich knurrend der Magen und verlangte nach Essbarem. Wir mussten aber noch bis zum Morgen warten, ehe etwas Verpflegung ausgegeben wurde. Der Tag vor Pfingsten begann mit strahlendem Sonnenschein und weckte zugleich neue Lebensgeister. Ungewiss über unser weiteres Schicksal wurden wir schon früh am Morgen mit einer heißen dünnen Suppe verpflegt. Dann ging es in den Burghof, wo wir unter strengster Bewachung einige Runden drehen mussten. Sprechen war streng erboten, und Vopos mit angeschlagener MP kontrollierten von Fenstern im oberen Stockwerk die Szene. Sie hatten von dort einen guten Überblick, und natürlich wollte keiner auffallen. Die Freiheit kam, zumindest für uns, nun sehr schnell. Zu Pfingsten wollten wohl auch einige unserer Bewacher zu Hause sein.

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