Sinnvoll zu betrachten. Geshe Kelsang Gyatso
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An dieser Stelle könnten aufgrund der Meditationstechnik, die eben beschrieben wurde, Zweifel entstehen. Es hieß, daß der Zweck der Entwicklung von Gleichmut darin bestünde, uns darauf vorzubereiten, alle Wesen als unsere Mütter zu betrachten. Wir könnten uns deshalb fragen: «Wenn es richtig ist, alle Wesen als meine Mütter zu betrachten, weil sie angeblich in der Vergangenheit meine Mütter gewesen sind, dann wäre es doch genauso richtig, sie alle aus dem gleichen Grund als meine Feinde zu betrachten?» Um den Trugschluß dieser Behauptung zu erkennen, müssen wir verstehen, daß die Gründe, die dazu führen, jemanden als unseren Feind zu betrachten, im Grunde wenig stichhaltig und das Resultat einer illusorischen Vorstellung unserseits sind. Die Gewohnheit, andere - unsere sogenannten Feinde - für unsere Probleme und Leiden verantwortlich zu machen, ist eine verblendete Denkweise, eine Denkweise, die nicht erkennt, daß letztlich unser eigener Geisteszustand und nicht irgendein äußerer Umstand für alle unsere Leiden verantwortlich ist.
Die Ursache für den Entschluß, jemanden als unseren Feind zu betrachten, ist eine falsche Projektion unseres Geistes, eine fehlerhafte Vorstellung der Ereignisse. Wir betrachten den Schaden, den wir durch jemand anderen erleiden, als berechtigten Grund, diesen als Feind zu betrachten und ihm mit Feindseligkeit entgegenzutreten. Dabei vergessen wir die Güte und elterliche Fürsorge, die wir früher von ihm erhalten haben, und sind uns unserer eigenen Schuld an unseren Leiden nicht bewußt. Obwohl wir dies ständig tun, ist es in Wirklichkeit völlig verblendet und unhaltbar. Wie im nächsten Kapitel erklärt wird, ist es andererseits nicht falsch oder verblendet, alle Wesen als unsere Mütter zu betrachten. Das ist wahr und nachprüfbar und öffnet nicht nur das Tor zur weiteren spirituellen Entwicklung, sondern bringt uns sofort Glück und Wohlbefinden.
Das Ziel der Meditation über Gleichmut ist es, alle voreingenommenen Geisteshaltungen zu entfernen, um damit alle Wesen ohne Unterschied als unsere Mütter betrachten zu können. Das wird uns wiederum motivieren zu überlegen, wie wir ihre unendliche Güte erwidern können. Wenn wir infolge dieser Meditation sogar unseren ärgsten Feind als unsere Mutter betrachten können, dann sind wir bereit, eine Realisation der ersten Stufe der sieben Ursachen und Wirkungen zu erlangen, die zur Entwicklung von Bodhichitta führen.
ALLE LEBEWESEN ALS UNSERE MÜTTER ERKENNEN
Nachdem wir eine unvoreingenommene Sicht von allen fühlenden Wesen entwickelt haben, sind wir bereit, sie alle gleichermaßen als unsere ehemaligen Mütter zu sehen. Das ist die stabile Grundlage, auf der der höchst altruistische Geist des Bodhichittas aufbaut. Wie ist es aber möglich, alle Wesen als unsere Mütter zu erkennen? Was sind die Gründe, die zum Glauben führen, daß wir mit allen Wesen ein enges Mutter-Kind-Verhältnis gehabt haben?
Um diese Fragen zu beantworten, ziehen wir die folgende Argumentation in Betracht. Die Frau, die wir gegenwärtig als unsere Mutter kennen, ist unsere Mutter, weil wir aus ihrem Mutterleib in diese Welt hinein geboren wurden. Das ist aber nicht das erste und nicht das einzige Mal, daß wir geboren wurden. Unser Geisteskontinuum reicht unendlich weit zurück, und unsere Geburten waren zahllos. Da wir zahllose Male geboren wurden, müssen wir folglich zahllose Mütter gehabt haben. Deshalb gibt es kein einziges Wesen, dem wir begegnen, das nicht irgendwann einmal in der unermeßlichen Dimension der anfangslosen Zeit unsere Mutter gewesen wäre. Wenn wir uns von der Logik der oben angeführten Argumentation überzeugen lassen, kann uns trotz der veränderten Form und Erscheinung der Wesen, die wir antreffen, und trotz der Unzulänglichkeit unseres begrenzten Erinnerungsvermögens nichts daran hindern, alle Wesen mit der gleichen Wärme zu betrachten, die wir jetzt mühelos für unsere gegenwärtige Mutter empfinden.
Obwohl die beschriebene Argumentation in sich logisch ist, ist es offensichtlich, daß sie überhaupt keine Überzeugungskraft besitzt, wenn wir nicht an die Existenz früherer und zukünftiger Leben glauben oder dieses zumindest vorläufig akzeptieren lernen. Solange wir diese Möglichkeit ablehnen - das heißt solange wir glauben, daß die Geburt und der Tod dieses Lebens die äußersten Grenzen unserer Existenz kennzeichnen - wird es ganz und gar unmöglich sein, alle Wesen als unsere Mütter zu erkennen, außer im metaphorischen Sinne. Das volle Verständnis vieler anderer wichtiger Dharma-Themen, wie zum Beispiel die Beziehung von Ursache und Wirkung, hängt davon ab, die Existenz vergangener und zukünftiger Leben in Betracht zu ziehen. Obwohl dieses Thema einigen Menschen ganz besondere Schwierigkeiten bereitet - insbesondere den Menschen im Westen - ist es wichtig, offen dafür zu sein und die Frage mit sowenig Vorurteilen wie möglich zu untersuchen.
Der Kern des Problems liegt in unserem Verständnis der Natur des Geistes. Denn durch die Erkenntnis, daß unser Geist ein formloses Kontinuum und dieses Kontinuum anfangslos ist, werden wir die Existenz früherer Leben verstehen lernen. Eine Methode, wie man darüber meditieren kann, ist die folgende: Wir können den gegenwärtigen Strom von Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühlen - alle Faktoren, die wir als «geistig» identifizieren - betrachten und zum Geistesstrom der vorherigen Momente, Minuten und Stunden zurückverfolgen. Dann können wir diesen Geistesstrom sogar noch weiter zurück zum gestrigen Tag, zur letzten Woche und zum letzten Jahr verfolgen. Je nach Stärke unseres Gedächtnisses können wir diesem Geistesstrom Jahr für Jahr bis zurück zu unserer Geburt nachgehen. Selbst wenn wir diesen Geistesstrom bis zur Zeit im Mutterleib oder bis zum Moment der Zeugung zurückverfolgen können, können wir nie einen Zeitpunkt finden und sagen: «In diesem Moment ist mein Geist entstanden.»
Einige Menschen, die diese Meditation des Zurückverfolgens praktizieren, können tatsächlich über den Moment der Zeugung hinausgehen und sich an den Geistesstrom am Ende eines früheren Lebens erinnern. Da aber diese Erfahrung nicht von sehr vielen Menschen geteilt (und oft angezweifelt) wird, können wir diese Erfahrung fairerweise nicht als Beweis für das anfangslose Kontinuum des Geistes verwenden. Daher ist es viel besser für uns, die Vertrautheit mit unserem eigenen Geist zu vertiefen und unsere Auffassung von seiner Natur und seinem Ursprung zu hinterfragen.
Bei dieser Untersuchung können uns die folgenden nützlichen Fragen und Beobachtungen helfen. Wenn wir nach dem Ursprung unseres gegenwärtigen Körpers suchen, kommen wir schließlich zur Vereinigung von Sperma und Eizelle unserer Eltern. Kann das auch der Ursprung unseres Geistesstromes sein? Wenn wir diese Frage mit Ja beantworten, dann ergeben sich viele Schwierigkeiten. Wie können wir die erheblichen Unterschiede zwischen unserem eigenen Geist und dem Geist unserer Geschwister und Eltern erklären? Wenn unser Geist zu Sperma und Eizelle unserer Eltern zurückverfolgt werden kann, was ist dann die Beziehung zwischen diesen Zellen und dem Geist der Eltern? Ist der Geist etwas, was letztlich auf eine körperliche Ursache reduziert werden kann? Da der Geist aber dem Wesen nach formlos ist, muß er nicht eine eigene nichtstoffliche Ursache haben, völlig getrennt von der Ursache unseres physischen Körpers?
Einige Menschen behaupten, daß der Geist bei der Geburt - abgesehen von wenigen vorgeburtlichen Eindrücken - einer unbeschriebenen Tafel gleiche. Sie sagen, daß das, was wir Geist nennen, lediglich ein durch Erziehung und Entwicklung erlerntes Verhalten sei. Kann uns diese Theorie zufriedenstellen? Erklärt sie die Unterschiede im Temperament zwischen den Menschen, Unterschiede, die sogar Neugeborene in der gleichen Familie aufweisen können? Erklärt sie die Komplexität des geistigen Verhaltens, das ganz normale Kinder zeigen, ganz zu schweigen von den besonderen Fähigkeiten und Begabungen, die hochbegabte Kinder aufweisen?
Wenn wir die Natur